Xi Jinping duldet keine kritische Aufarbeitung der Geschichte Chinas. Foto: imago/Xinhua/Ju Peng

Immer öfter wendet Peking Ausreisesperren an, um kritische Stimmen zu unterdrücken. Nun hat es die Soziologin Guo Yuhua getroffen, die aufgrund ihrer Feldforschung zu den führenden Wissenschaftlerinnen des Landes zählt.

Dieser Tage häufen sich die Vorfälle, bei denen sich die traumatische Geschichte der Volksrepublik China zu wiederholen scheint: Bei ihrer Feldforschung sammelte die Soziologin Guo Yuhua einst die mündlichen Geschichten von Bauern, die während der großen Hungersnöte nicht aus ihren Dörfern fliehen durften. 60 Jahre später steht die pensionierte Professorin selbst am Grenzübergang von Shenzhen zur ehemals britischen Kronkolonie Hongkong – und wird von den Zollbeamten abgewiesen. Ein von Peking verhängtes Ausreiseverbot sei gegen sie verhängt worden, ließ man die Akademikerin wissen.

Guo Yuhua ist damit nur der jüngste Fall in einer endlosen Reihe. Immer wieder nämlich hält die Zentralregierung kritische Stimmen wie Geiseln in den eigenen Landesgrenzen gefangen. Die Menschenrechts-NGO Safeguard Defenders hat in einer aktuellen Studie eruiert, wie systematisch Staatschef Xi Jinping die Praxis ausgeweitet hat: Allein in den vergangenen vier Jahren wurden fünf zusätzliche Gesetze verabschiedet oder geändert, die solche Ausreiseverbote vorsehen. Die NGO schätzt, dass derzeit mehrere Zehntausend Chinesen mit einer solchen Klausel belegt worden sind.

Yuhua ist eine der führenden Soziologinnen Chinas

Die Causa Guo Yuhua sollte der internationalen Staatengemeinschaft besonders zu denken geben. Die 66-Jährige gilt schließlich als eine der führenden Soziologinnen des Landes. Ihr akademisches Leben hat sie wie kaum eine Zweite der Feldforschung gewidmet. Besondere Bekanntheit erlangte sie Mitte der 90er Jahre für ihr Projekt „kommunistische Zivilisation“, in dem sie mit Wissenschaftlerteams die Geschichte mehrerer Dorfgemeinschaften seit Beginn der kollektivistischen Landreformen der 50er Jahre aufspürte. Nach Vorbild sogenannter „Oral History“ gaben die Bauern als Zeitzeugen möglichst unbeeinflusst und in eigenen Worten ihre Lebenserfahrungen wieder.

Mittlerweile ist dieser Ansatz unter Staatschef Xi Jinping de facto nicht mehr möglich, weil die Kommunistische Partei stets die Informationshoheit über die Narrative beibehalten möchte – ganz gleich, ob im Journalismus, der Politik oder auch in der Wissenschaft. Sie möchte verhindern, dass auch die dunklen Seiten der Geschichte zum Vorschein kommen. Guo Yuhua hat diese trotz des politischen Klimas wiederholt ausgegraben, wie allein der Titel ihres 2013 publizierten Buchs verdeutlicht: „Die Erzählung derer, die leiden“. Das Werk wurde auf dem Festland verboten und konnte nur in Hongkong gedruckt werden. Von dort gelangte jedoch immer wieder Schmuggelware nach Peking, auch wenn es die Lieferungen zuletzt kaum mehr durch die Post schafften.

Yuhua war einst Zwangsarbeiterin

Auch auf anderen Wegen wurde ihre Stimme zunehmend zum Schweigen gebracht: Ihre Alma Mater – die elitäre Tsinghua-Universität in Peking – verbannte zuletzt praktisch sämtliche von Guos Büchern aus den Bibliotheksregalen. Und immer wieder löschten die Zensoren auch ihre Beiträge aus den sozialen Medien.

Dass sich Guo Yuhua für die einfachen Leute engagierte, war ihr nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Sie wuchs zunächst in einer staatlichen Wohnsiedlung in Peking auf, die der politischen Führungselite vorbehalten war. Ihre Eltern waren Militäroffiziere, die der Zentralregierung dienten. Doch während der Kulturrevolution (1966–76) fiel Guos Vater in Ungnade und wurde von den Behörden verfolgt. 1968 starb er an Leberzirrhose – auch, weil man ihm den Zugang zu Medikamenten verweigerte. Guo Yuhua wurde – wie Millionen junger Menschen – in die Provinz verbannt, um Zwangsarbeit zu verrichten.

Damit weist ihre Biografie erstaunliche Parallelen zu Staatschef Xi Jinping auf, der als Prinzling eines mächtigen Parteifunktionärs geboren wurde, welcher später jedoch von Staatsgründer Mao Tse-tung geschasst wurde. Während Xi allerdings in den Folgejahren „roter als rot“ wurde, wählte Guo Yuhua einen anderen Weg: Sie behielt ihren kritischen Blick gegenüber der kommunistischen Elite bei.

Ihre Ablehnung gegenüber den Verhältnissen wurde zuletzt immer unerbittlicher, was vor allem mit der Politik des seit 2012 amtierenden Staatschefs Xi Jinping zu tun hatte: Der 69-Jährige weitete die ideologische Kontrolle auf sämtliche Gesellschaftsbereiche aus und duldete auch in den Universitäten keine gedanklichen Freiräume mehr. An der Tsinghua-Universität wurden zuletzt etliche Professoren verhaftet und gefeuert. In einem ihrer letzten Interviews aus dem Frühjahr 2020 sprach Guo noch mit entwaffnender Ehrlichkeit über ihre Gefühle: „Natürlich habe ich Angst! Wer hätte das nicht? Aber egal, wie viel Angst du hast, du darfst weder vor ihnen in die Knie gehen, noch darfst du dich fallen lassen.“ Für sie gebe es keine andere Wahl, als sich weiter öffentlich zu äußern.