Mit Tempo 30 zum Weltrekord: Der rote Zug schlängelt sich durch die Berge. Foto: dpa/Yanik Buerkli

Mit schweizerischer Präzision gelingt der Rhätischen Bahn in Graubünden ein Weltrekord. Noch nie war ein längerer Passagierzug unterwegs.

Einen Zug aufs Schienennetz zu schicken ist für eine Bahngesellschaft Tagesgeschäft. So gesehen hatten Peter Klima und Martin Moser am Samstag einen ganz normalen Arbeitstag. Aber: Es war eben nicht irgendein Zug, dem der Technische Leiter der Rhätischen Bahn (RhB) und der zuständige Projektleiter am Samstag um 14:21 Uhr grünes Licht gaben, sondern: ein Weltrekord-Zug.

Aus 25 aneinander gekoppelten Triebzugeinheiten vom Typ Capricorn, gesteuert von sieben Lokführern, konfigurierte die RhB den mit exakt 1906 Meter längsten Passagierzug, der bisher je auf Schienen unterwegs war. Lohn der Arbeit: ein Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde, beglaubigt von einer eigens aus der Türkei angereisten Rekordrichterin – vor allem aber Bilder, die um die Welt gingen.

„Die Idee für diese Aktion kam uns während der Corona-Phase, als wir einen massiven Rückgang der Fahrgastzahlen verkraften mussten. Daher wollten wir mit einem ganz besonderen Event auf die Schönheit und Faszination unseres Schienennetzes aufmerksam machen“, erklärt Renato Fasciati, Direktor der Rhätischen Bahn.

„Was haben wir uns da eigentlich eingebrockt“

„Zudem soll diese Veranstaltung unsere Capricorn-Triebwagenflotte – die größte Rollmaterialanschaffung in der Geschichte der RhB – der Öffentlichkeit präsentieren. Und nicht zuletzt ist dieser Weltrekord unser Beitrag zum 175-jährigen Jubiläum des schweizerischen Eisenbahnwesen.“

Dass Fasciati am Morgen mit erhöhtem Puls unterwegs war, daraus macht der eidgenössische Bahnmanager keinen Hehl. „Zugegeben: Ich bin schon mit dem Gefühl aufgestanden: Was haben wir uns da eigentlich eingebrockt.“

Aber dank drei erfolgreicher Testläufe und idealer Wetterbedingungen dominierte letztlich die Zuversicht, diese technisch-logistische Herausforderung erfolgreich zu meistern. Auch Wolfrad Bächle, Geschäftsführer der Miniaturbahn-Experten Märklin, vertraute von Beginn an auf die Kompetenzen der RhB.

Sponsor Märklin unterstützt das technische Bravourstück

„Die Rhätische Bahn weiß, was sie tut und wird hier einen einzigartigen Moment an Eisenbahngeschichte schaffen. Wir waren sofort überzeugt, davon, diese Idee als einer der Hauptsponsoren zu unterstützen.“ Schmuckes Gastgeschenk der Göppinger Modellbahner: ein knapp 80 Meter langer Prototyp des Weltrekord-Zuges im Maßstab von 1:22,5 – die finale Variante aller eingesetzten Triebwagen-Einheiten kommt 2023 als „Capricorn“-Sonderedition in den Handel.

Und was schon als Miniatur mächtig Eindruck macht, entpuppte sich im Realbetrieb als faszinierende feuerrote Zugschlange, die sich mit Durchschnittstempo 30 km/h spektakulär und teils auf drei Ebenen gleichzeitig die Albula-Bahn talwärts tastete.

Computer aus, Handsteuerung an

Die Knackpunkte dabei: Weil die Rekuperationstechnik (die Rückverwandelung von Bremskraft in elektrische, ins Stromnetz eingespeiste Energie) bei dieser Sonderfahrt für eine Überspannung im Elektrizitätsnetz gesorgt und das enorme Gewicht von über 3000 Tonnen viel zu hohe Kräfte auf die Infrastruktur und Wagenkästen ausgeübt hätte, musste die im Alltagsbetrieb aktive Steuerungssoftware abgeschaltet und der Zug manuell gefahren werden.

Hierbei mussten alle sieben Lokführer möglichst zehntelsekundengenau synchron bremsen beziehungsweise Zugkraft geben – was die nächste Herausforderung in Sachen Kommunikation bedeutete. Denn Mobiltelefone oder konventionelle Funkgeräte stießen bei der Fahrt durch insgesamt 22 Tunnels an ihre technischen Grenzen.

Die Lösung brachten schließlich alte analoge Feldtelefone aus dem Bestand des schweizerischen Zivilschutzes, mit denen alle Lokführer auch über die Zuglänge von 1,9 Kilometern in Verbindung stehen konnten. Und nicht zuletzt musste die 75-minütige und 24,9 Kilometer lange Fahrt in den normalen RhB-Betrieb integriert werden, weshalb ein Sonderfahrplan entwickelt und das Albula-Tal zu weiten Teilen für den Verkehr gesperrt wurde.

Dass die RhB mit all dem auch ein umgerechnet rund 1,5 Millionen Euro teures PR-Event inszenierte und etwa das beschauliche Bahndorf Bergün in ein folkloristisches Festivalgelände mit Bierzelt, Trachtengruppen und Alphornbläsern verwandelte?

Letztlich nicht mehr als eine Randnotiz, denn der Werbewert dieser Veranstaltung dürfte um ein zigfaches höher liegen - die vom Privatsender Blick TV mit drei Helikopter- und sieben stationären Kamerateams produzierten Livebilder dieses Weltrekords auf Schienen wurden jedenfalls gar bis nach China ausgestrahlt.