Der mutmaßliche Attentäter wurde verhaftet. Foto: AFP/ELENA BOFFETTA

Entsetzen in Argentinien: Ein Mann greift mit einer Schusswaffe die einflussreiche Vizepräsidentin Kirchner an. Staatschef Fernández spricht von einem Attentat. Der Vorfall wirft viele Fragen auf.

Unglaubliche Szenen haben sich in Argentinien abgespielt. Dort ist die Ex-Präsidentin Cristina Kirchner nach Regierungsangaben nur knapp einem Mordanschlag entgangen.

Demnach richtete ein Mann am Donnerstagabend (Ortszeit) vor ihrer Wohnung in Buenos Aires eine geladene Waffe auf die 69-Jährige. Der Angreifer habe den Abzug gedrückt, sagte Staatschef Alberto Fernández in einer Fernsehansprache an die Nation. Es habe sich aber kein Schuss gelöst. Der mutmaßliche Attentäter wurde festgenommen. Kirchner blieb nach Medienberichten unverletzt. Gegen die derzeitige Vizepräsidentin läuft gerade ein Korruptionsprozess.

Wohnung von Verdächtigem durchsucht

Die Hintergründe waren zunächst unklar. Die Polizei stellte am Freitag in der Wohnung des Verdächtigen rund 100 Schuss Munition, einen Computer und ein Telefon sicher. Die Justiz nahm Ermittlungen wegen versuchten Mordes auf. Die zuständige Ermittlungsrichterin inspizierte am Freitag den Tatort. Zudem wurden Zeugen und auch Kirchner selbst zu dem Vorfall vernommen.

Präsident Fernández sprach vom schwerwiegendsten politischen Vorfall seit dem Ende der Militärdiktatur (1976-1983) in Argentinien. Der Staatschef erklärte den Freitag kurzfristig zum Feiertag, weil der soziale Frieden in dem südamerikanischen Land gestört worden sei. Die Bevölkerung solle Gelegenheit bekommen, sich „in Frieden und Harmonie“ zur Verteidigung der Demokratie und des Friedens zu äußern und Solidarität mit Kirchner zu bekunden.

Auseinandersetzungen von Gegnern und Befürwortern

Vor Kirchners Haus hatten sich in den vergangenen Tagen chaotische Szenen abgespielt. Zahlreiche Anhänger kampieren als Unterstützung für die ebenso populäre wie umstrittene Politikerin derzeit auf der Straße. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Nachbarn und der Polizei. Kirchner war Präsidentin des Landes von 2007 bis 2015. Sie hat auch heute noch großen Einfluss. Sie steht für den linken Flügel der derzeitigen Regierungskoalition. Verheiratet war sie mit dem inzwischen verstorbenen früheren Präsidenten Néstor Kirchner.

Auf Videos ist zu sehen, wie die Politikerin gegen 21.00 Uhr vor ihrem Wohnhaus im eleganten Stadtteil Recoleta eintrifft. Dort warten - wie seit Tagen - zahlreiche Anhänger auf sie. Plötzlich richtet der Verdächtige aus der Menschenmenge heraus eine Pistole auf sie und zielt aus nächster Nähe auf ihr Gesicht. Kirchner duckt sich und hält schützend die Hand hoch.

Leibwächter überwältigen Verdächtigen

Augenzeugen berichteten, auch das Abdrücken des Abzugs sei zu hören gewesen. Der 35 Jahre alte Mann sei von Anwesenden sowie den Leibwächtern der Politikerin überwältigt und später festgenommen worden. Zudem sei eine Pistole des Kalibers 32 sichergestellt worden.

Bei dem Verdächtigen soll es sich um einen Brasilianer handeln, der in Buenos Aires lebt, wie die Zeitung „La Nación“ unter Berufung auf Regierungskreise am Freitag berichtete. Demnach wurde im März 2021 bei dem Mann während einer Polizeikontrolle ein Messer sichergestellt. Zuletzt wurde er zweimal im Fernsehsender Crónica interviewt. Dabei sprach er sich gegen die Regierung und staatliche Sozialprogramme aus.

Papst meldet sich

Papst Franziskus bekundete Kirchner nach dem Angriff seine Solidarität. „Ich bete dafür, dass in unserem geliebten Argentinien soziale Harmonie und Respekt vor den demokratischen Werten vorherrschen, gegen jede Art von Gewalt und Aggression“, hieß es in einem Telegramm, das er an seine Landsfrau richtete.

Innenminister Eduardo de Pedro rief zu einer Demonstration auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungspalast auf. „Die Reden von Hass und Gewalt haben Konsequenzen“, schrieb der Anhänger von Kirchners Jugendorganisation La Cámpora auf Twitter. „Es ist an der Zeit, den Gewalttätern den Rücken zu kehren und die Demokratie zu stärken.“

Korruptionsprozess gegen Kirchner

Die politische Landschaft Argentiniens ist stark polarisiert, die sogenannte „grieta“ (Riss) zwischen Rechts und Links zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Nach dem mutmaßlichen Anschlag solidarisierten sich allerdings auch Kirchners politische Gegner mit der Vizepräsidentin. „Meine Solidarität gilt Cristina Kirchner und ich verurteilte den Vorfall auf das Schärfste“, schrieb der konservative Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Larreta, auf Twitter. „Dies ist ein Wendepunkt in der demokratischen Geschichte unseres Landes. Mehr denn je müssen sich alle Argentinier gemeinsam für den Frieden einsetzen.“

In einem Korruptionsprozess gegen Kirchner hatte die Staatsanwaltschaft kürzlich zwölf Jahre Haft und eine lebenslange Sperre für öffentliche Ämter gefordert. Sie soll Anführerin einer kriminellen Vereinigung gewesen sein und den Staat um umgerechnet etwa eine Milliarde Euro gebracht haben.

Gemeinsam mit ihrem Mann habe sie einem befreundeten Bauunternehmer ohne Ausschreibung eine ganze Reihe von öffentlichen Aufträgen beschafft, hieß es. Ein Teil der überhöhten Baukosten floss demnach später wieder an das Paar zurück. Die Vizepräsidentin weist die Vorwürfe zurück und wirft der Justiz vor, aus politischen Motiven gegen sie zu ermitteln.