Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass der Mindestlohn in der Pflege auch ausländischen Kräften zusteht. Foto: dpa/Daniel Reinhardt

Pflegenotstand in Polen: Das deutsche Grundsatzurteil zur häuslichen Betreuung, das einen Mindestlohn in der Pflege festschreibt, wirft ein grelles Schlaglicht auf die Lage im Osten der EU.

Warschau - Wer in Polen in der Pflege arbeitet, der „muss schon einen kleinen Knacks weghaben“. So sieht es Adam Stradowski, der mit seiner gemeinnützigen Gesellschaft „Zuflucht“ in Warschau ein Heim für mittellose Alte und Kranke betreibt.

Was er mit dem Knacks meint: „Man muss Menschen lieben, einfach so.“ Reich jedenfalls werde Pflegekräfte in Polen nicht. Eher im Gegenteil. Denn es gibt nicht einmal eine Pflichtversicherung wie in Deutschland. Fast alles hängt deshalb an der Menschenliebe. Und an den Familien. Die aber müssen sich wegen der wachsenden Anforderungen immer öfter Unterstützung von Dienstleistern holen. Den unschönen Rest regelt der Schwarzmarkt.

Ein deutscher Mindestlohn in der häuslichen Pflege könnte zum Kollaps in Polen führen

Dieses „System“ steht seit Jahren unter steigendem Druck. Denn Polen ist alles zugleich: eine boomende Wirtschaft und eine alternde Gesellschaft, die schrumpft und dabei ihre besten Köpfe durch Abwanderung an den Westen verliert.

Schließlich liegt das reiche Deutschland vor der Haustür. Und genau deshalb hat das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestlohn in der häuslichen Pflege, der demnach auch ausländischen Pflegekräften zusteht, nicht nur Auswirkungen auf die Lage hierzulande, sondern könnte im schlimmsten Fall zu einem Kollaps der Altenbetreuung in Polen führen. Im besten Fall erhöht sich erst einmal „nur“ der Druck weiter.

Pflegekräfte verdienen in Polen nur etwa 450 Euro

Das Problem lässt sich in Zahlen fassen. In Polen bieten Dienstleister eine häusliche Rund-um-Betreuung für 4000 Zloty im Monat an. Das sind knapp 900 Euro. Davon kommt etwa die Hälfte bei den Beschäftigten an. Die gleichen Pflegekräfte können aber unter ungezählten legalen Angeboten aus Deutschland wählen, bei denen ein monatlicher Verdienst von 1500 bis 2000 Euro winkt. Erhöht sich nun die Bezahlung nach dem Erfurter Urteil weiter, dürfte sich bald auch die letzte Pflegekraft in Polen überlegen, lieber abzuwandern. Ob es so kommt, ist nicht ausgemacht. Denn nach dem Urteil könnte das Modell der häuslichen Dauerbetreuung in Deutschland teurer werden – oder seltener. Dann würden sogar weniger osteuropäische Pflegekräfte gebraucht.

Fachleute halten das angesichts des eklatanten Personalmangels in der Branche allerdings für extrem unwahrscheinlich. Renata Föry, die polnische Pflegekräfte legal nach Deutschland vermittelt, erwartet eine ganz andere Entwicklung. „Es werden noch mehr Beschäftigte auf den Schwarzmarkt ausweichen“, fürchtet sie und warnt: „Würden keine osteuropäischen Pflegekräfte in Deutschland arbeiten, würde das komplette System sofort zusammenbrechen.“

Die östlichen EU-Staaten verlieren immer mehr Fachkräfte

Doch auch abgesehen vom Schwarzmarkt gehört es längst zur europäischen Wirklichkeit, dass die östlichen EU-Staaten einen dramatischen Verlust an Fachkräften zu verzeichnen haben. Das gilt für Medizinberufe, aber ebenso für das Handwerk, die Tech- oder die Pharmabranche. Rund 2,5 von 38 Millionen Menschen haben Polen nach 1989 Richtung Westen verlassen, fast sieben Prozent. Andere Staaten wie Lettland und Bulgarien haben sogar 20 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Hinzu kommt eine stark gesunkene Geburtenrate bei einer um fünf Jahre gestiegenen Lebenserwartung.

Immer weniger Junge müssen also immer mehr Alte versorgen. Und zugleich gilt: Gehen die Kinder weg, altern die Eltern allein. Die rechtskonservative PiS-Partei, die ihre Stammwählerschaft unter den Älteren hat, versucht seit ihrer Regierungsübernahme 2015 mit einer aktiven Sozialpolitik gegenzusteuern. Sie hat erstmals in Polen ein Kindergeld eingeführt und die Abgabenlast für junge Menschen deutlich reduziert. Die Anziehungskraft der reichen EU-Staaten kann das aber kaum abmildern.

Der Notstand verlagert sich immer weiter nach Osten

Was für viele Familien in Polen als letzter Ausweg bleibt, sind illegale Lösungen. Rund 80 Prozent der häuslichen Pflege sind mittlerweile über den Schwarzmarkt organisiert. Zum Einsatz kommen dabei meist Pflegekräfte, die ihrerseits aus dem Osten kommen, meist aus der Ukraine oder Belarus.

Nur durch die Zuwanderung von etwa zwei Millionen Menschen aus ehemaligen Sowjetrepubliken ist die Bevölkerung in Polen in den vergangenen Jahren konstant geblieben. Anders formuliert: Die Menschen wandern nach Westen, der Notstand nach Osten.