In der Ausgabe im Marbacher Stadtarchiv befinden sich auch handschriftliche Notizen. Foto: Werner Kuhnle / 

Das Stadtarchiv in Marbach (Kreis Ludwigsburg) hat einen Coup gelandet und ein jahrhundertealtes Handbuch erworben, das großartige Einblicke in die Behandlungsmethoden kurz nach dem Mittelalter erlaubt.

Über seine familiären Bande kann man nur spekulieren. Der Marbacher Stadtbrand 1693 hat im Prinzip alle Dokumente aus seiner Zeit vor Ort vernichtet. Der Marbacher Stadtarchivar Albrecht Gühring hält es aber für denkbar, dass Julius Holder in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. In einer Musterungsliste aus dem Jahr 1553 taucht nämlich ein Jörg Holder aus Marbach auf, der als Wundarzt gewirkt hat. Eine Profession, der auch Julius Holder nachgegangen ist, der um 1560 herum geboren sein dürfte und aus derselben Stadt stammte. „Es passt zeitlich und beruflich einfach zu gut“, findet Gühring.

Fakt ist jedenfalls, dass besagter Julius Holder ein medizinisches Traktat verfasst hat, das die Jahrhunderte überdauert hat, in mehrfacher Auflage bis mindestens 1672 gedruckt wurde und damit so etwas wie ein Bestseller in der Fachliteratur gewesen sein dürfte. Der Clou ist, dass Gühring nun eines der kostbaren Büchlein für das Stadtarchiv sichern konnte. 3500 Euro hat das Werk aus dem Jahr 1593 gekostet. Ein Gönner, der lieber anonym bleiben will, hat die Schrift finanziert.

Das Nachschlagewerk ist eine wertvolle Fundgrube für all jene, die sich für Medizingeschichte interessieren oder einfach neugierig sind, wie Beschwerden vor mehr als 400 Jahren kuriert worden. Einige Empfehlungen davon sind aus heutiger Sicht Schabernack, andere zumindest zweifelhaft, manche aber auch erstaunlich aktuell und schlüssig. Das etwa handflächengroße Büchlein mit dem Namen „Dialogus, ein nützliche und warhafftige Beschreibung, eines rechten Wundartzts, unnd seiner Meisterschafft, wider alle Gebrechen und Zufäll des menschlichen Cörpers“ umfasst rund 90 Seiten und ist nach dem Frage-Antwort-Prinzip aufgebaut.

Bekannter Arzt als Vermittler

Albrecht Gühring hat die Ausgabe, die nun im Stadtarchiv verwahrt wird, aus einem Antiquariat in Wien bezogen. Die Österreich-Connection kommt nicht von ungefähr. Dem 1592 verfassten Vorwort ist zu nehmen, dass Julius Holder aus Württemberg ins damalige Erzherzogtum Kärnten als Feldarzt berufen worden war. Gühring vermutet, dass der bekannte Medicus Oswald Gabelkover, der ursprünglich aus dem Alpenland stammte und in Stuttgart am Herzogshof diente, Holder kannte und den Marbacher den Machthabern in Kärnten ans Herz gelegt hatte.

Stadtarchivar Albrecht Gühring ist bei einer Internetrecherche auf das Büchlein gestoßen. Foto: Werner Kuhnle

Ein zusätzliches Schmankerl an der Neuerwerbung des Stadtarchivs ist, dass in das Büchlein zusätzlich 20 handschriftliche Seiten eingebunden sind, die ein früher Vorbesitzer ergänzt haben muss. Vermerkt sind hier diverse Rezepturen gegen alle möglichen Leiden – wie die Syphilis. Dass dagegen jedoch tatsächlich Gemische auf Quecksilberbasis weiterhelfen können, ist natürlich Humbug. Ebenso wenig erfolgversprechend scheint es, sich die Schläfen mit Gänseschmalz einzureiben, um besser in den Schlaf zu finden. Dagegen könnte es zumindest der Spur nach zielführend sein, Wunden mit Mischungen zu behandeln, die unter anderem Kamillenöl enthalten.

Kanzler bei Hexenprozessen hingerichtet

Wer die Rezepturen in dem Büchlein notiert hat, bleibt im Dunkeln. Vielleicht handelte es sich aber um Georg Haan, der sich mit einem Vermerk aus dem Jahr 1612 als damaliger Besitzer zu erkennen gibt. Haan dürfte jener Kanzler des Hochstifts in Bamberg gleichen Namens sein, der 1628 im Rahmen der Hexenprozesse hingerichtet wurde. Gut möglich aber auch, dass die Anleitungen für die Heilmittel von einem jungen Feldarzt notiert wurden, der das Büchlein als Nachschlagewerk stets griffbereit hatte. „Man sieht, dass es wahrscheinlich jemand dabei hatte. Es ist relativ stabil in ein altes Pergament gebunden. Und es hatte mal Schnüre, um es zusammenzubinden“, erklärt Albrecht Gühring.

Für diese These könnte sprechen, dass die Bandbreite der in dem Traktat unter die Lupe genommenen körperlichen Beschwerden groß ist, man also auf fast jede medizinische Problemstellung eine Antwort erhielt. Zum Beispiel auch im Hinblick darauf, wie mit Lippenspalten, früher im Volksmund Hasenscharten genannt, umzugehen sei. Julius Holder empfiehlt, diese mit einer „Fleisch Scheer“ herauszuschneiden, die Backen mit „Blech hefften“ zusammenzuzwingen und anschließend wie andere Mundwunden auch heilen zu lassen.

Ist indes die Kniescheibe aus ihrer eigentlichen Position herausgesprungen, so legt der Marbacher Wundarzt nahe, sie mit der Hand wieder einzurenken. Dabei solle der Patient jedoch „aufrecht stehen“. Holder macht auch klar, was droht, wenn man die mutmaßlich schmerzhafte Prozedur auf die lange Bank schiebt: dann „bleibt es dernach nicht gerne mehr drin“.

Bei solchen Passagen schimmert deutlich der Praktiker durch, der Julius Holder war. Als Wundarzt und Feldscher habe er einen Lehrberuf wie Tischler oder Zimmermann ausgeübt, erläutert Albrecht Gühring. Dem gegenüber hätten seinerzeit die studierten Mediziner gestanden, die sich Physikus nannten und für größere Gebiete zuständig waren. Umso erstaunlicher somit, dass ausgerechnet Holder eine Art Bestseller der Frühen Neuzeit gelang.

Von Marbach nach Kärnten

Lebensstationen
Der Marbacher Wundarzt Julius Holder dürfte irgendwann um die Jahre 1555 bis 1560 geboren sein. 1580 zog er nach Kärnten. Sein Todesdatum ist unbekannt. Wie der Marbacher Stadtarchivar Albrecht Gühring vermutet, könnte er der Bruder des Theologen Wilhelm Holder gewesen sein, der 1542 zur Welt kam und ebenfalls aus Marbach stammte.

Ausgaben
Das Traktat, das in Marbach aufbewahrt wird, wurde 1593 gedruckt. Die erste Ausgabe ist aber wohl 1592 erschienen. Weitere Auflagen sind nachweislich 1630 und 1672 auf den Markt gekommen.