Eine Delegation aus Marbach hat dreieinhalb Tage die türkische Stadt Tirebolu am Schwarzen Meer besucht. Wird die langjährige Verbindung nun zur offiziellen Partnerschaft?
Ein vollbesetzter Kleinbus braust über die vierspurige Küstenschnellstraße in der Nordosttürkei. Links erstreckt sich das Schwarze Meer bis an den Horizont. Rechts ziehen die Städte und das grüne, bergige Hinterland vorbei. Die Musik ist aufgedreht, damit sich die zweistündige Heimfahrt nach einem Tagesausflug nicht so lange anfühlt. Die Stimmung unter den knapp 20 Insassen ist spürbar gelöst, manchen hält es für einen kurzen Tanz sogar nicht mehr auf den Sitzen.
Erst erklingen türkische Volkslieder von der Schwarzmeerküste, dann zwischendrin deutsche Gassenhauer. „Ohne Dich“ von der Münchener Freiheit etwa. Ein Hit, der mit seiner Textzeile „Das was ich will bist du“ vom Wunsch nach Verbundenheit handelt. Und der damit ganz gut an Ort und Stelle passt. Denn im Bus sitzen Gastgeber aus der türkischen Stadt Tirebolu. Und ihre deutschen Gäste aus der befreundeten Stadt Marbach. Seit zwölf Jahren sind die beiden Städte verbunden – wenn auch bislang nicht offiziell als Partnerstadt.
Abwechslungsreiches Sightseeing
Ob sich das ändern wird? Dreieinhalb Tage weilte die Marbacher Delegation über den 1. Mai für ein Treffen im vier Flugstunden entfernten Tirebolu. Das erste Wiedersehen nach Corona, um die Freundschaft wieder aufleben zu lassen und die Kontakte zu intensivieren. Das nächste Treffen mit der seit Jahrzehnten etablierten US-Partnerstadt Washington wurde dafür erst für 2024 angesetzt. Und so wurde beim abwechslungsreichen und durchgetakteten Sightseeing in Tirebolu und der Umgebung immer wieder gleich auch erörtert: Sind hier und dort Kooperationen mit Marbach denkbar? Bei den Vereinen, den Haselnuss- und Schwarzteefabriken oder einer ausschließlich von Frauen betriebenen Weberei?
In der Schillerstadt ist man – das wurde bei dem Besuch in Kleinasien deutlich – gewillt, bei der Freundschaft den nächsten Schritt zu gehen. Indem die Bürger und Vereine beider Städte zusammengebracht werden. „Das ist der konsequente nächste Schritt“, sagt Daniel Hofsäß, der dem Partnerschaftskomitee vorsitzt. Auch die Erste Beigeordnete und stellvertretende Bürgermeisterin Franziska Wunschik, die die Delegation anführte, äußerte sich beim Empfang im Rathaus entsprechend: „Wir möchten die Freundschaft weitertreiben, um in naher Zukunft Partnerstädte zu werden.“
Große Gastfreundlich- und Herzlichkeit
Am Schwarzen Meer ist man schon einen Schritt weiter. Das machte Bürgermeister Burhan Takir bei dem Empfang deutlich. „Wir flirten seit zwölf Jahren und müssen uns irgendwann verloben.“ Und weiter sagte der Rathauschef: „Es sollte die Eheschließung her.“ Schon 2015 hatte der damalige Landrat Ömer Lütfi Yaran beim Besuch aus Marbach gemeint: „Hoffentlich ist diese Freundschaft bald unterschriftsreif.“ Die Unterlagen bis zum nun fünften gegenseitigen Besuch füllen im Marbacher Rathaus drei Ordner.
Auf türkischer Seite hatte man sich die Unterschrift bereits für das diesjährige Treffen erhofft. Die Vertreter Marbachs mussten das vor der Reise aber absagen, da es erst einen Beschluss des Gemeinderates benötigt. Und in dem Gremium war dieser Schritt nach dem coronabedingten Stillstand bei allen Städtepartnerschaften bislang kein Diskussionsthema. Was sich nach der jetzigen Reise ändern dürfte.
Nicht nur wegen des klaren Wunschs des Gegenübers. Sondern auch weil sich die Gastgeber für ihre Gäste aus Marbach wieder mächtig ins Zeug legten. Und wo die Gruppe aus Marbach auch weilte, begegneten ihr überaus freundliche und zuvorkommende Menschen. Als „extrem herausragend“ empfand das etwa Daniel Hofsäß, der erstmals in Tirebolu mit dabei war. „Ich hatte vorher schon von der imposanten Gastfreundlichkeit gehört. Und das hat sich jetzt mehr als bestätigt.“ Auch Franziska Wunschik, ebenfalls zum ersten Mal in Tirebolu zu Besuch, sprach während des Rückfluges von einer „beeindruckenden Reise zu unseren Freunden“, mit sehr viel Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit. „Und sie haben ein wahnsinniges Programm für uns vorbereitet.“
Die zwölfköpfige Delegation – bestehend aus Vertretern der Stadt, des Partnerschaftskomitees, des FC Marbach und der Marbacher Zeitung – lernte viel über die befreundete Stadt und deren Region. Die Sprachbarriere zu den Einheimischen wurde dank der in Marbach lebenden Mitreisenden Yakup Elevli und Leyla Kahraman überwunden, die zudem viel zur Organisation und zum Programm beigetragen haben. Elevli wuchs in Tirebolu auf, pflegt seit Freundschaftsbeginn den Kontakt zwischen beiden Städten.
Heimat von Haselnüssen und Tee
Bei jedem Programmpunkt omnipräsent: Haselnüsse und Schwarztee. Für beides ist der Großkreis Giresun, in dem Tirebolu liegt, weithin bekannt. Das kommt nicht von ungefähr: Die Region zählt 220 Regentage im Jahr, die Temperaturen sind warm, aber nicht heiß. Im Sommer steigt das Thermometer auf 30 Grad, und damit längst nicht so hoch wie in der Südtürkei. Dieses Klima mit seiner erhöhten Luftfeuchtigkeit bietet die ideale Voraussetzung für Tee- und Haselnussanbau. Dazu kommt der fruchtbare Boden, über den man sagt: „Stampft man hier einen Menschen in den Boden, wachsen irgendwann weitere Menschen.“ Auch Mandarinen und Orangen reifen heran. In der Stadt Giresun, übersetzt Heimat der Kirsche, darüber hinaus mehr als hundert Kirschsorten.
Die Haselnusssträucher und die Teepflanzen bedecken das gesamte bergige Umland, sind mit Abstand der größte Industriezweig der Gegend. Die Haselnüsse werden im August von Hand geerntet – allein in Tirebolu 15 000 Tonnen im Jahr. Die Ernte ist dank ihres besonderen Geschmacks in ganz Europa gefragt. Die Nüsse werden unter anderem an Milka und Ritter Sport exportiert. Die ersten Haselnüsse waren bereits 1905 über die Donau nach Deutschland verschifft worden. Sowohl in Tirebolu als auch Giresun ist die Bedeutung der Haselnuss mit Denkmälern unterstrichen. Selbst das neu erbaute Stadion des Fußball-Erstligisten Giresunspor ist mit seiner Bauweise einer geöffneten Haselnuss nachempfunden.
Die Marbacher Gruppe machte sich bei Besuchen einer Haselnussfabrik mit 60 und der größten Teefabrik in der Stadt mit 30 Mitarbeitern ein Bild. Kostprobe – wieder wie selbstverständlich – inklusive. Beide Betriebe sind mit moderner Technik ausgestattet. Und auch davon, was das Teeanbaugebiet weltweit einzigartig macht, gewann die Delegation einen Eindruck: es ist das einzige Anbaugebiet, in dem Schnee fällt. Bei der Fahrt über einen 2200 Meter hohen Pass legte die Gruppe tatsächlich einen Halt im Schnee ein. Niemand hatte das im Mai in der Türkei erwartet. „Der Schnee sorgt für die beste Qualität“, ließ der Inhaber der Teefabrik verlauten.
Tagesausflug führt auch in den Schnee
Einen Eindruck bekamen die Gäste auch von der langen Geschichte der Region, die mindestens seit 3000 Jahren besiedelt ist. Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten an der Schwarzmeerküste viele Griechen. Wie Tirebolu – einst Tripolis, was angelehnt an die Stadtgliederung „drei Städte“ heißt – tragen viele Ortschaften Namen griechischer Herkunft. Auch Gebäude, die griechisch-orthodoxe Kirchen waren, bezeugen diese Zeit. Im Museum der Stadt Giresun sind Münzen und Vasen aus der Zeit vor Christus zu sehen. In Giresun wie auch in Tirebolu thronen Jahrtausende alte Burgruinen über dem Hafen. Erst vor zehn Jahren wurde nun in Giresun eine Kirche aus dem 7. Jahrhundert ausgegraben.
Tagesausflüge führten etwa zu einer Seilbahn, die auf einen Berg bei Giresun führte, der auch Urlaubern aus dem arabischen Raum gefragt ist. Ein Höhepunkt war die Fahrt ins 130 Kilometer entfernte Sebinkarahisar, hoch oben im bergigen Hinterland gelegen. Hier, wo auch viele Menschen armenischer Abstammung leben, besuchte die Gruppe eine Weberei, die allein von Frauen betrieben wird und die sich mit ihren Produkten – Tischläufer, Schals, Krawatten – großer Nachfrage erfreut. Rund 15 große Webstühle kommen zum Einsatz, auch die Gäste aus Marbach durften sich an ihnen probieren. Einen Halt gab es bei Kalkterrassen, die an eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Türkei, Pamukkale, erinnern. Teepause war im alten Bergdorf Tamzara angesagt, das als Luftkurort Urlauber anzieht. Eine traurige jüngere Geschichte hat derweil das Bergdorf Dereli, wo wie in Braunsbach aus einem Bach ein reißender Fluss wurde, der Häuser mitriss und die Einkaufsstraße drei Meter mit Geröll und Schlamm bedeckte. Neun Menschen starben. Der Wiederaufbau schreitet voran.
Inspirierende bunte Altstadtgassen
Auch Tirebolu stand auf dem Programm: Die Burgruine wurde ebenso besucht wie die staatliche Universität für Journalismus und PR, die 2006 mit finanzieller Unterstützung der Bürger verwirklicht wurde. 900 Studenten aus dem ganzen Land lernen hier und bringen eine für die Kleinstadt wichtige Kaufkraft mit. Momentan finden allerdings nur Online-Lesungen statt, da im Gebäude Betroffene aus dem Erdbebengebiet in der Südosttürkei untergebracht sind. Allein in Tirebolu sind das 400 Menschen, für deren Unterstützung die Stadt Marbach und die Reisegruppe 750 Euro spendeten.
Die Marbacher besuchten auch ein besonderes Projekt, die „Bunte Straße“. Um Gassen in der Altstadt aufzuhübschen wurden in den vergangenen Jahren Lacke in allen möglichen Farben verwendet, um die Pflastersteine und Hauswände zu färben. Der Boden ist blau, jedes Haus ist andersfarbig gestrichen und mit Zeichnungen versehen. Die Haustüren und Fensterrahmen sind bunt. Ein inspirierender Ort. Auch weil an einer Hauswand mit buntem Namen, einer Sonne und Luftballons an ein Mädchen erinnert wird, das schwer erkrankt war und für das die Nachbarschaft gespendet hatte, damit es in den USA behandelt wird. Das Mädchen überlebte die Krankheit nicht.
Eine Ecke weiter zeigt ein auf eine Wand gemalter Wegweiser die Richtung zu verschiedenen Örtlichkeiten an. Auf Anregung von Stadträtin Ute Rößner, einst Vorsitzende des Partnerschaftskomitees und zum dritten Mal in Tirebolu zu Gast, sagte der Ortsvorsteher und Initiator des Projekts zu, das Motiv so zu erweitern, das auch in Richtung des 2468 Kilometer entfernten Marbachs gezeigt wird – sofern die Städtepartnerschaft besiegelt wird.
Feierlicher Festakt zum Abschluss
Diese mögliche Partnerschaft war auch beim abschließenden Festakt mit Bürgermeister und Stadträten kurz Thema, indem Bürgermeister Burhan Takir nochmals seinen Wunsch unterstrich und dafür Applaus von beiden Seiten bekam. „So Gott will kommen wir beim nächsten Treffen zur Verlobung zusammen.“ Er sprach von einem schönen Anblick, die Gäste aus Marbach wieder zu Besuch zu haben. Vor der Abreise erörterten beide Seiten im Gespräch, wie die Verbindung intensiviert werden kann. „Wir waren auf einer Linie und die türkische Seite hatte da auch gute Ideen. Etwa, dass man das mit Kulturfesten verbindet, wie wir es auch schon mit unseren Freunden aus L’Ile Adam hatten“, berichtet Daniel Hofsäß.
Ansätze für eine tiefere Freundschaft scheinen vorhanden, auch einzelne freundschaftliche Kontakte untereinander bestehen. 2015 hatte zudem die A-Jugend des FC Marbach als Lohn für ihre Meisterschaft Tirebolu bereist und ein Testspiel gegen die A-Jugend von Giresunspor bestritten. Der inzwischen aufgelöste Frauenclub Rielingshausen hatte Kontakt nach Tirebolu gepflegt. Und fast hätten beide Städte gemeinsam an einem Europaprojekt mit zwei Städten aus Bulgarien und Italien teilgenommen, was dann aber nicht zustande kam.
Die große Politik in der Türkei und die baldige Präsidentschaftswahl spielten beim Besuch bewusst keine Rolle. Es ging allein um die Freundschaft untereinander. Und wer weiß, vielleicht wird aus der Freundschaft ja tatsächlich Partnerschaft. So hätte dann ein weiterer Hit, der im Kleinbus auf der Küstenschnellstraße aufgedreht wurde, die passende Bedeutung: „Marmor, Stein und Eisen, aber unsere Liebe nicht.“ Es liegt wohl bald in der Hand des Marbacher Gemeinderates.