Die Schädeldecke des Neandertales (vorne) liegt im LVR-LandesMuseum Bonn in einer Vitrine vor einer Nachbildung des Neandertalers. Foto: dpa/Oliver Berg

In Bonn kann man dem Original-Neandertaler in den Kopf schauen. Dort liegt das Exemplar, das der frühen Menschenart ihren Namen gegeben hat. Über den Mann sind faszinierende Einzelheiten bekannt.

Ganz vorsichtig greift Ralf Schmitz in die geöffnete Museumsvitrine. „Ich habe jedes Mal wieder Herzklopfen dabei“, sagt der Archäologe und Prähistoriker.

„Das Schädeldach ist das bedeutendste Fundstück überhaupt, weil es am eindeutigsten ist.“ Die dicken Wülste über den Augen, die fliehende Stirn, der flache Schädel: All das zeigt, dass man es hier nicht mit den Überresten eines gewöhnlichen Menschen zu tun hat.

Schädeldecke von „Neandertal 1“ wurde 1856 gefunden

Die Schädeldecke gehört zu einem Neandertaler – zu dem Neandertaler schlechthin: In dem Glaskasten ausgebreitet liegen die Knochen des sogenannten „Neandertal 1“. Jenes 1856 im Neandertal bei Düsseldorf gefundenen Fossils, das der prähistorischen Menschenart ihren heute weltweit verwendeten Namen gegeben hat.

Seit 1877 wird dieser namengebende Neandertaler im Rheinischen Landesmuseum in Bonn – heute LVR-Landesmuseum – aufbewahrt. Für Schmitz ist es „eine Ikone wie die Mona Lisa in Paris“. Und er selbst ist der Hüter dieses Fundes.

Ralf W. Schmitz, Kulturanthropologe und Neandertaler-Experte, öffnet im LVR-LandesMuseum Bonn eine Vitrine mit den Knochenfunden des Neandertalers. Foto: dpa/Oliver Berg

Was haben diese Augen einmal gesehen?

Der Wissenschaftler empfindet aber noch aus einem anderen Grund ein Gefühl der Ehrfurcht, wenn er einen der Knochen in der Hand hält. „Das hier ist kein alter Tonkrug, kein prähistorischer Pferdeknochen. Es ist ein Teil eines Menschen, der einmal geliebt, gelacht und getrauert hat. Das muss man sich klarmachen.“

Eine Nachbildung des Neandertalers steht im LVR-LandesMuseum Bonn. Foto: dpa/Oliver Berg

Er dreht die Schädeldecke um und zeigt auf schmale Rillen an der Innenseite. „Das sind Eindrücke der Arterien der Hirnhaut“, erklärt er. „Die Struktur eines individuellen Gehirns wird hier sichtbar. Das ist schon faszinierend, wenn man sich die Frage stellt: Was haben diese Augen einmal gesehen? Dieser Mensch lebte ja in einer völlig anderen Welt.“ Eine Welt der Mammute, Wollnashörner und Rentiere. Aber keine Welt des ewigen Eises, sondern der Steppen und Wälder.

Jetzt hat Schmitz einen kleineren Knochen in der Hand, das Jochbein. „Schauen Sie mal hier, die kleinen Bobbel“, sagt er. „Das sind Reaktionen des Knochengewebes auf eine ganz schlimme Entzündung. Er hatte eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung – und das könnte in einer Zeit ohne Antibiotika auch zu einer Blutvergiftung geführt haben.“ Vielleicht die Todesursache?

Ein Leben für den Neandertaler

Der 63 Jahre alte Schmitz hat dem Original-Neandertaler – dem sogenannten Typus-Exemplar – sein ganzes berufliches Leben gewidmet. Schon als Schüler, so erzählt er, habe er im Museum davor gestanden und sich gefragt, ob man nicht noch mehr dazu herausbekommen könne. Seitdem hat die Forschung enorme Fortschritte gemacht.

So könnte eine Neandertalerin ausgesehen haben. Foto: © BBC Studios/Jamie Simons

Schmitz selbst hat vor 20 Jahren an der ursprünglichen Fundstelle noch viele weitere Knochenteile wie Wirbelfragmente, Unterkieferstücke, Hand- und Fingerknochen, Zähne entdeckt. Sogar ein hauchdünnes Stück der Nasenscheidewand kam zum Vorschein. Schmitz geht davon aus, dass der Neandertaler an dem Ort von seinen Angehörigen begraben wurde.

„Neandertal 1“ lebte vor mehr als 44 000 Jahren

Die Forscher haben auch das Alter des Neandertalers herausgefunden. Er lebte vor mehr als 44 000 Jahren. Gewonnen wurde diese Information durch die Analyse einer Gewebeprobe aus dem Oberarmknochen. Zurzeit wird an einer noch präziseren Altersbestimmung gearbeitet. Was der Neandertaler gegessen hat, steht ebenfalls fest: fast ausschließlich Fleisch.

Auch ein spezielles Kennzeichen ist bekannt: Der Neandertaler lebte mit einer schweren Behinderung: Sein linker Arm war verkümmert. „In seiner Jugend muss er sich den Arm im Bereich des Ellbogengelenks gebrochen haben, und das ist nie sauber verheilt“, berichtet Schmitz. „Wir haben kleine Knochenproben aus dem Oberarm entnommen und einen enormen Abbau der Knochensubstanz im linken Arm festgestellt.“

Das bedeutet: Die Schwere der Verletzung war noch viel stärker als bis dahin angenommen, der Neandertaler konnte den Arm fast nicht mehr bewegen. „Es handelte sich also gleichsam um einen behinderten Neandertaler – mitten in der rauen eiszeitlichen Umwelt. Da stellt sich die Frage: Wie geht das?“

Der Neandertaler lebte in einer Welt der Mammute, Wollnashörner und Rentiere. Keine Welt des ewigen Eises, sondern der Steppen und Wälder. Foto: Imago//xphilipcarrx
Die Genforschung hat ergeben, dass heutige Menschen nicht-afrikanischen Ursprungs etwa ein bis drei Prozent Neandertaler-Gene in sich tragen, weil sich der Neandertaler einst mit dem aus Afrika ausgewanderten Homo sapiens mischte. Foto: Imago/Spitzi

Behinderter Neandertaler wurde von seiner Gruppe unterstützt

Auch wenn sich der unverletzte rechte Arm aufgrund der intensiveren Beanspruchung besonders kräftig entwickelte, kann die Antwort auf diese Frage nach Überzeugung von Schmitz nur lauten: Der Mann wurde von der Gruppe, in der er lebte, sozial unterstützt und mitgetragen.

„Er hat das 20 Jahre überlebt. Denn wir haben im Rahmen des Forschungsprojektes auch sein Lebensalter feststellen können: Er wurde etwa 42 oder 43 Jahre alt und hat damit die Lebensspanne der Neandertaler voll ausgereizt. Damals wurde man nicht älter. Wenn er das aber ausgereizt hat, muss er Unterstützung erfahren haben – und das sagt über die Neandertaler-Menschen viel mehr aus als Tausende von Steinwerkzeugen.“

Neandertaler-Gen verschlimmert Covid

Die Genforschung hat ergeben, dass heutige Menschen nicht-afrikanischen Ursprungs etwa ein bis drei Prozent Neandertaler-Gene in sich tragen, weil sich der Neandertaler einst mit dem aus Afrika ausgewanderten Homo sapiens mischte.

Diese Gene haben sehr konkrete Auswirkungen. „So gibt es ein Neandertaler-Gen, das die Auswirkungen von Covid noch verschlimmert und ein anderes, das im Gegenteil davor schützt“, erläutert Schmitz.

Rekonstruktion eines jugendlichen Neandertalers. Foto: Imago/Depositphotos
Dieser Frühmensch war sehr kräftig und hatte stärkere Knochen als wir. Er war kleiner und bastelte sich schon effektive Waffen für die Jagd. Vielleicht konnte er sogar sprechen. Foto: Imago/Zoonar

Wieder ein anderes beeinflusst demnach die Mobilität der Spermien. „Vielleicht hatten die späten Neandertaler hier einen entscheidenden Nachteil bei der Fortpflanzung. Wir suchen ja nach jedem Strohhalm, um das Rätsel zu lösen: Warum ging diese erfolgreiche Menschenart plötzlich unter?“ Dass sie vom Homo sapiens ausgerottet wurde, gilt inzwischen als eher unwahrscheinlich.

Langsam lässt Schmitz wieder den Vitrinen-Deckel hinuntergleiten. „So, nun hast du wieder deine Ruhe“, murmelt er dabei. Fast hört es sich an, als würde er zu einem alten Freund sprechen.

Info: Homo neanderthalensis

Homo

Auf der Erde lebt heute nur noch eine Menschenart, zu der wir alle gehören: der „Homo sapiens“ – der weise Mensch. Aber viele Zehntausend Jahre lang lebte in Europa und im vorderen Teil von Asien eine ganz andere hominine Spezies: Homo neanderthalensis.

Neandertal

Im Jahr 1856 wurden in einem Tal bei Düsseldorf Knochenreste vom Neandertaler gefunden. Sie verraten viel über ihn und seine Lebensweise: Dieser Frühmensch war sehr kräftig und hatte stärkere Knochen als wir. Er war kleiner und bastelte sich schon effektive Waffen für die Jagd. Vielleicht konnte er sogar sprechen.

Homo sapiens und Homo neanderthalensis

Später kam dann auch der Homo sapiens nach Europa und Vorderasien. Einige tausend Jahre lebten beide in den gleichen Gegenden, vermutlich begegneten sie sich. Aber was passierte dann? Haben sie miteinander gesprochen, einander bekämpft oder sich vielleicht sogar gepaart? Heute glauben Forscher: Es gab damals tatsächlich gemeinsame Kinder von Neandertalern und modernen Menschen. Sie vermuten sogar, dass die allermeisten Menschen Erbgut von Neandertalern in sich tragen. Die Neandertaler starben vor etwa 30 000 Jahren aus.