Am Dienstag hat die „Razoni“ mit Getreide aus der Ukraine im syrischen Tartus angelegt. Foto: IMAGO/ZUMA Wire/Onur Dogman

Experten beobachten eine „systematische Plünderung“ von ukrainischem Getreide. Der ukrainische Präsident wird bei seinem Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres und dem türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Lwiw wohl auch über dieses Thema sprechen.

Nach einer langen Irrfahrt kann der Frachter „Razoni“ endlich seine Ladung löschen. Das erste Schiff, das seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs den Hafen Odessa verlassen durfte, brachte nach fast zwei Wochen auf See mehr als 20 000 Tonnen Mais an sein Ziel: Syrien. Das Regime von Staatschef Baschar al-Assad erhält viel Getreide aus dem Schwarzmeerraum. Einiges davon hat Russland nach Einschätzung von Experten in besetzten ukrainischen Gebieten gestohlen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dürfte sich darüber beschweren, wenn er an diesem Donnerstag mit UN-Generalsekretär António Guterres und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Lwiw zusammenkommt.

Fahrt wurde durch Istanbuler-Vereinbarung möglich

Möglich wurde die Fahrt der „Razoni“ durch die Istanbuler Getreide-Vereinbarung von Ende Juli. Bisher hat das Gemeinsame Koordinationszentrum von UN, Türkei, Russland und der Ukraine in Istanbul laut den UN insgesamt 36 Genehmigungen für den Frachtschiffverkehr von und in die Ukraine erteilt; das Land konnte seit Anfang August mehr als eine halbe Million Tonnen Getreide zu den Märkten bringen.

Die „Razoni“ steuerte mit ihrer als Hühnerfutter deklarierten Ladung zunächst den Libanon an, doch der dortige Käufer wollte die Fracht nicht mehr haben. Mehrere Tage suchten die Eigner der „Razoni“ nach einem neuen Abnehmer, dann wurden sie im syrischen Tartus fündig. Satellitenbilder zeigten den Frachter im Hafen der Stadt.

Millionen Syrer leiden unter Hunger

Nach elf Jahren Bürgerkrieg sind Millionen Syrer vom Hunger bedroht. Nach UN-Schätzungen wissen zwölf Millionen Menschen derzeit nicht, wo ihre nächste Mahlzeit herkommen soll. Das Land braucht nach Angaben seiner Regierung jedes Jahr 1,5 Millionen Tonnen Weizenimporte. Hauptlieferant ist Assads Verbündeter Russland.

Während die Fracht der „Razoni“ legal geliefert wurde, erhält Damaskus offenbar auch gestohlenes Getreide aus der Ukraine. Zehn Tage vor der Ankunft der „Razoni“ in Tartus fuhr der syrische Frachter „Laodicea“ mit 5000 Tonnen Gerste und 5000 Tonnen Mehl aus dem Libanon in Richtung Syrien ab. Vergeblich forderte die ukrainische Regierung, die libanesischen Behörden sollten die „Laodicea“ aufhalten: Die Ladung stamme aus russisch besetzten Gebieten in der Ukraine und werde illegal verkauft. Die „Laodicea“ unterliegt seit 2015 US-Sanktionen, weil das Schiff Assads Regierung zugerechnet wird.

Einzige Seeverbindung zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer

Aus Sicht der Ukraine tut die Türkei als Wächterin über den Bosporus und die Dardanellen – der einzigen Seeverbindung zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer – nicht genug, um illegale Transporte zu verhindern. Anfang Juli bestellte Kiew den türkischen Botschafter ein, weil die Türkei den russischen Frachter „Zhibek Zholi“ mit 7000 Tonnen Getreide an Bord nicht aufhalten wollte. Nach russischen Angaben sollte das Schiff ein „befreundetes Land“ wie Syrien oder den Iran ansteuern. Die Fracht stammte der Ukraine zufolge aus dem russisch besetzten Hafen Berdjansk.

Der Istanbuler Sicherheitsexperte Yörük Isik dokumentiert seit dem Frühjahr die Durchfahrt von Schiffen durch den Bosporus, die aus russisch besetzten Häfen im Süden der Ukraine nach Syrien unterwegs sind. Isik beobachtet nach eigenen Worten eine „systematisch strukturierte und geplante Plünderung“ von ukrainischem Getreide, die trotz des Istanbuler Getreide-Abkommens unvermindert weitergeht. Jede Woche passierten mindestens zwei Schiffe mit gestohlenem Getreide den Bosporus, sagte Isik am Mittwoch unserer Zeitung. Weitere Schiffe fahren nach seinen Angaben mit gestohlener Fracht türkische Schwarzmeerhäfen an. Das gestohlene Getreide werde billig verkauft, sagte Isik. Die Türkei sei offenbar nicht willens, die Transporte zu stoppen. Selenskyj werde Erdogan in Lwiw auf die illegalen Transporte ansprechen, erwartet Isik. „Die ukrainische Regierung verfolgt das Thema sehr genau.“

Türkei versucht einen Mittelweg zu beschreiten

Die Türkei versucht, im Ukraine-Konflikt einen Mittelweg zu beschreiten: Sie liefert zwar Kampfdrohnen an Kiew, hält aber engen Kontakt zu Russland und will ihre Wirtschaftsbeziehungen zu beiden Kriegsparteien ausbauen. Erdogan, der sich als Vermittler im Ukraine-Konflikt sieht, hatte erst am 5. August mit Selenskyjs Kriegsgegner Wladimir Putin beraten und eine engere Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland vereinbart. Der türkische Präsident strebt einen Waffenstillstand in der Ukraine und ein persönliches Treffen von Selenskyj und Putin an.

In Lwiw will der türkische Staatschef damit weiterkommen: Erdogan wolle über „diplomatische Wege“ zur Beendigung des Kriegs sprechen, teilte das türkische Präsidialamt mit. Die Berichte über illegale Getreidetransporte kratzen jedoch am Bild des ehrlichen Maklers.