Das Rezept in Papierform bleibt erst einmal die Grundlage des Abrechnungssystems in den Apotheken. Foto: Werner Kuhnle

Der Dienstleister Noventi gerät nach Management-Fehlern in Schieflage. Noch ist nicht klar, wie es am Standort in Bietigheim-Bissingen weitergeht.

Acht von zehn Apotheken in Baden-Württemberg rechnen ihre Rezepte mithilfe der Noventi Health SE ab. Entsprechend groß war die Unruhe, als bekannt wurde, dass der Konzern mit Hauptsitz in München finanziell mächtig in Schieflage geraten war. Inzwischen greift ein Sanierungskonzept. In unrentablen Teilen des Konzerns regiert der Kahlschlag: Bis zu 460 der 2300 Beschäftigten könnten von der Sanierung betroffen sein, eventuell auch am Standort in Bietigheim-Bissingen.

Das Papierrezept hat noch nicht ausgedient

Ins Schlingern geriet der Konzern offenbar, weil er sich in einer Vielzahl von unwirtschaftlichen Projekten verzettelte. Zu groß waren die Hoffnungen auf eine frühzeitige Einführung des E-Rezepts. Davon sind aber Apotheken, Verbraucher und nicht zuletzt das Bundesgesundheitsministerium weit entfernt. Das Papierrezept hat nicht ausgedient. Mit dem Rezept senden Apotheken Datensätze an Rechenzentren. Von deren Treuhandkonten fließt im Gegenzug das Geld an die einzelne Apotheke.

Apotheker und die Noventi sind eng verschmolzen, denn durch den Förderverein Süddeutscher Apotheken (FSA) gehört die Aktiengesellschaft zu 100 Prozent den Apothekern. Deren Ziel ist nun das Weiterfunktionieren des Abrechnungswesens. Kürzlich gewährten die Landesapothekerverbände Bayern und Baden-Württemberg im FSA Noventi ein Darlehen von 20 Millionen Euro.

Die AvP-Pleite lässt die Apotheker vorsichtig werden

Die Sanierung trägt den Namen Fokussierung 2025. Es soll den Konzern in fünf Jahren in die schwarzen Zahlen zurückführen. „Wir können kein Insolvenzrisiko feststellen – die Noventi muss sich an den von den Beratern vorgegebenen Weg halten“, sagt Frank Eickmann, der stellvertretende Geschäftsführer des Landesapothekerverbands (LAV) Baden-Württemberg. Laut Eickmann hätte eine Insolvenz von Noventi dazu geführt, dass der Insolvenzverwalter Abrechnungsgelder wochenlang eingefroren hätte: „Keine Apotheke könnte sich einen solchen Geldstau leisten.“ Ein noch größerer Domino-Effekt als nach der Pleite des Apotheken-Abrechners AvP vor drei Jahren drohte.

Nun setzt Noventi mit neuen Vorständen auf das Kerngeschäft mit Abrechnung, Warenwirtschaft und Branchensoftware. Gutachter bestätigen: Es sei möglich, das Darlehen in fünf Jahren zurückzuzahlen. Als Sicherheit dient größtenteils die mit 16 Millionen Euro beliehene Immobilie in München. Betriebsbedingte Kündigungen hat die Noventi nach eigenen Angaben nicht ausgesprochen. Im Januar habe die Firma 230 Mitarbeitern angeboten, in eine Transfergesellschaft einzutreten oder ihnen eine Abfindung zu zahlen. Ob der Konzern weitere personelle Einschnitte vermeiden kann, hänge von der in die Wege geleiteten Konsolidierung ab. Noventi will zwei der fünf Produktlinien in der Warenwirtschaft erhalten. Zu ihnen zählt die Linie awintaOne in Bietigheim-Bissingen. Ob am zweitgrößten Standort in Bietigheim-Bissingen alle 140 Arbeitsplätze erhalten bleiben können, werde geprüft.

Worin aber verzettelte sich Noventi? Die Spur führt zum E-Rezept. So soll der Konzern im vergangenen Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag in die Plattform gesund.de investiert haben. Die entsprechende App sollte auf Smartphones verwendet werden. Allerdings haben sich die meisten Aktivitäten rund um das E-Rezept bisher als Blase erwiesen. Offenbar scheuen nicht nur Patienten, sondern auch Apotheken den Umgang mit einer App. Noventi selbst gibt sich in puncto E-Rezept zuversichtlich: „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet – sowohl auf eine schnelle, übergreifende Markteinführung als auch auf eine weitere Verzögerung.“

Wie groß die Probleme von Noventi sind, zeigt der weitere Liquiditätsbedarf von rund 70 Millionen Euro bis 2025. Der Bedarf ist im Rahmen des Programms Fokussierung 2025 festgestellt worden. Das nötige Geld will das Unternehmen durch ein Darlehen von 50  Millionen Euro sowie durch die 20 Millionen Euro aus den Eigenkapitalmitteln des Fördervereins FSA aufbringen. Die LAV-Vorsitzende Tatjana Zambo führte bei der Mitgliederversammlung am 22. März einen Beschluss von 78 zu 15 Stimmen für das Darlehen herbei. Sie ist davon überzeugt, dass Noventi seine Liquidität herstellen kann.

Das E-Rezept brächte für die Apotheken einen erhöhten Aufwand mit sich

Der Marbacher Apotheker Jan Siegel hält Noventi für ein grundsätzlich solides Unternehmen: „Eine Insolvenz wäre für die Apotheken schon brutal.“ Viele Apotheken könnten sich gar nicht leisten, selbst mit den Krankenkassen abzurechnen, da sie dafür das Personal nicht hätten. „Die Kosten für die Abrechnung betragen einen niedrigen dreistelligen Betrag im Monat – sie wären um ein Vielfaches höher.“ Und das E-Rezept? „Für uns Apotheker würde sich der Aufwand in der Abwicklung erhöhen, und auch für den Patienten ist es nicht praktikabel genug.“ Man darf gespannt sein, wie es bei Noventi weitergeht.

Welche Rolle spielt Awinta in Bietigheim-Bissingen bei Noventi?

Standort
 Die Awinta GmbH in Bietigheim-Bissingen wurde im Jahr 2006 als VSA Apothekensysteme GmbH gegründet und 2009 zur Awinta GmbH umfirmiert. Sie gilt als Grundstein der heute führenden Marktposition von Noventi im Bereich der Warenwirtschaftssysteme für Apotheken. Die awinta GmbH ist im Jahr 2021 unter dem Dach der Noventi Health SE mit dem Konzern verschmolzen. Dort gibt es rund 140 Arbeitsplätze.

Produktlinien Am Standort in Bietigheim wird die Produktlinie awintaOne als Software für die Warenwirtschaft entwickelt. Noventi will die Linien awintaOne und Prokas im Rahmen des Sanierungsprogramms Fokussierung 2025 weiterentwickeln. Bietigheim-Bissingen sei weiterhin ein strategisch wichtiger Standort. Hingegen werden die drei Linien jump, Infopharm und Pharmasoft nicht weiter ausgebaut. Noventi stellt Pharmasoft zum Jahresende ab.