Für die einen faszinierend, für die anderen zum Weglaufen: der Klang der Blockflöte Foto: dpa/Jens Büttner

Die Tochter unseres Autors kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Töne oder Klänge lösen bei ihr Panik aus – bis zu einem Besuch in der Musikschule.

Manchmal und das verrate ich jetzt wirklich nur Ihnen, fahre ich zum Einkaufen zu dem Supermarkt, der weiter entfernt liegt. Aber nur wenn ich alleine im Auto unterwegs bin. Dann höre ich Musik, und zwar sehr laut.

Mein Soundtrack fehlt mir im Alltag. Früher gab es in meinem Leben Musik im Club, beim Konzert, beim Kochen, beim Sport oder auf dem Sofa: Schallplatten auflegen und darüber nachdenken, wie ungerecht schnell die Zeit vergeht. Oder hätten Sie gedacht, dass die Single „Out of Space“ von The Prodigy bereits im Jahr 1992 erschienen ist?

In den 30 Jahren danach kamen viele neue Lieblingslieder hinzu. Bei Konzerten, im Urlaub, „Arcade Fire“ bei einem Roadtrip durch Südfrankreich hörend. Dann wurde irgendwann unsere Tochter geboren und ersetzte die Musik durch ihre großen Augen und ihr Lächeln, das alles im Umkreis von mindestens drei Kilometern zum Scheinen bringt.

Es fing an mit der Angst der Tochter vor den großen Boxen in unserem alten Wohnzimmer. Wenn die anfingen zu knistern, rannte sie raus aus dem Raum und versteckte sich mit Panik in den Augen. Also blieben die großen Boxen aus.

Angst vor Kummer

Weiter ging es im Auto und einer besonders ausgeprägten Furcht vor tiefen Stimmen und ebensolchen Bässen. Als ich aus Neugier das Album von Kraftklub-Frontmann Felix Kummer anhören wollte, fing unsere Tochter an zu schreien. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch gar nicht, wie groß Kummer wirklich sein kann.

Dann kam die Diagnose an Pfingsten vor zwei Jahren. Nach einer ewigen Odyssee von Arzt zu Arzt brachte eine Stufen-Diagnostik in der Genetischen Abteilung einer Klinik Gewissheit: Unsere Tochter hat einen sehr seltenen Gen-Defekt, der ihr die Sprache fast komplett geraubt hat und ihre Feinmotorik einschränkt.

Sie hat außerdem eine Autismus-Spektrum-Störung und reagiert auf Reize viel empfindlicher als andere. Ein Ausflug in den Baumarkt ist für sie Folter: In jedem Regal wird ein Jingle abgespielt, trällert ein anderer Werbespot, ein anderer Radiosender. Auf Töne reagiert sie so sensibel, dass ich meine Plattensammlung schließlich verkauft habe, bevor wir in die ruhigere Kleinstadt umgezogen sind.

Dort hatte ich kürzlich ein intensives Erlebnis. Schnuppertag mit dem Großen in der Musikschule. Im Vortragssaal werden alle Instrumente von A bis Z vorgestellt. Der Junge sitzt mit seiner Mama in der ersten Reihe und ich stehe mit der Kleinen vor der offenen Tür des Saals, stets bereit zur Flucht. Erst will das kleine Zauberwesen direkt weg, dann findet sie das Instrumentenvorspiel aber scheinbar doch zu spannend, sodass wir aus sicherer Entfernung lauschen müssen, ihre kleine Hand in meiner.

Blockflötentrauma aus der Kindheit

Bei der Kindertuba drückt sie meine Finger ganz intensiv. Kein Wunder, die Töne des Eufoniums sind so tief, dass man direkten losheulen möchte, nicht aus Trauer, sondern vor Staunen. Beim Fagott versteckt sich die Maus hinter dem Papa, klingt auch verdächtig nach „Peter und der Wolf“. Bei der Blockflöte wird sie dagegen neugierig und schaut, während ich gerne davonrennen würde – eigene traumatische Kindheitserinnerungen aus dem Blockflötenunterricht sind der Grund.

Am Ende hält sie die komplette Instrumenten-Vorführung durch, was mich in meiner Beobachtung bestärkt, dass Töne nicht generell ein Problem sind, sondern vor allem dann, wenn das kleine Geschöpf die Quelle nicht zuordnen kann.

Die Erkenntnis aus diesem Vormittag an der Musikschule? Vielleicht muss ich meine Blockflötenskills auffrischen und meine Lieblingslieder künftig nachspielen, in einer Ein-Mann-Coverband. Vielleicht dehne ich meine Solo-Fahrten zum Supermarkt aber einfach weiter aus, um heimlich laut Musik hören zu können. Was sind schon die paar Lieder und Alben, die man nicht mehr so oft hören kann, wenn man im Tausch für die Musik eine Traumtochter geschenkt bekommt?