Das Mindestalter für die Teilnahme an Bundestagswahlen soll nach dem Willen von SPD, Grünen und FDP auf 16 Jahre gesenkt werden. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Die künftigen Koalitionäre halten ihren Zeitplan ein. Der Koalitionsvertrag listet die Vorhaben der kommenden Bundesregierung auf. Digitalisierung und Modernisierung sind Schlüsselbegriffe. Versprochen wird ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ – trotz Schuldenbremse.

Berlin - Sie haben es geschafft. In Verhandlungen, die nie durch öffentliche Störgeräusche begleitet wurden, haben sich SPD, FDP und Grüne auf ein 177-seitiges Vertragswerk geeinigt. Wir dokumentieren die wichtigsten Vorhaben der künftigen Regierung.

Verteidigung, Außenpolitik, Europa Die neue Koalition bekennt sich in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zur transatlantischen Partnerschaft und mit großer Vehemenz zur Europäischen Union. Der Koalitionsvertrag nennt eine „demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU“ die „Grundlage für unseren Frieden und Wohlstand“. Der Reformprozess in der EU solle zu einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ führen. Die Ampelpartner sprechen sich auch für den EU-Beitritt der sechs Westbalkanstaaten aus. Langfristig sollen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in „internationales Handeln“ investiert werden, damit sollen Entwicklungspolitik und Diplomatie gestärkt und die Verpflichtungen gegenüber der Nato erfüllt werden. Die Rüstungsexportpolitik soll „restriktiv“ gehandhabt werden. Dazu wird ein „nationales Rüstungsexport-Kontrollgesetz“ geschaffen. Die Ausrüstung der Bundeswehr wird verbessert. Gleich zu Beginn der neuen Wahlperiode soll ein Nachfolgesystem für den Kampfjet Tornado angeschafft werden. Einigung gibt es in einer wichtigen Streitfrage: Die Anschaffung bewaffneter Drohnen wird ermöglicht. Bundeswehreinsätze im Ausland wird es weiterhin geben. Man werde als verlässlicher Partner „an unserem außen- und sicherheitspolitischen Engagement festhalten“, heißt es. Im Verhältnis zu China sollen Menschenrechtsverletzungen „klar thematisiert werden“. Dennoch werde die Kooperation mit China gesucht, „wo immer möglich“.

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Rente Rente mit 70? Keineswegs. Die Ampelparteien wollen das Rentenalter (es steigt derzeit auf 67) nicht anheben. Das Rentenniveau soll dauerhaft bei 48 Prozent liegen, bis 2025 soll der Rentenbeitrag nicht über einen Wert von 20 Prozent steigen. Damit bildet die Ampel ab, was bis 2025 ohnehin geltende Rechtslage ist – das Niveau wird nach neuen Prognosen bis 2028 nicht unter 48 Prozent fallen. Um das Rentensystem „langfristig zu stabilisieren“, bekommt die Rentenkasse in einem ersten Schritt eine Kapitalrücklage aus Steuergeld von zehn Milliarden Euro. Weil die Rentenkasse aber monatlich 20 Milliarden Euro ausgibt, ist der Kapitalstock vergleichsweise klein. Bei den Rentenerhöhungen ab 2022 gilt der sogenannte Nachholfaktor. Das heißt: Die Renten werden nicht kräftiger steigen als die Einkommen der Arbeitnehmer. Was die Eigenvorsorge anbelangt, betont der Vertrag: „Es gilt ein Bestandsschutz für laufende Riester-Verträge.“ Daneben aber soll die private Vorsorge grundlegend reformiert werden – sie wird dabei aber nicht verpflichtend.

Mindestlohn und Hartz IV Der Mindestlohn steigt auf zwölf Euro in der Stunde. Das setzt der Staat durch – also notfalls auch gegen den Willen der Mindestlohnkommission, die eigentlich die Höhe des Mindestlohns festlegt. Die Minijob-Einkommensgrenze steigt auf 520 Euro im Monat. Die Ampel will Hartz IV durch ein sogenanntes Bürgergeld ersetzen. Bekommt jemand diese Sozialleistung, wird er in den ersten beiden Jahren sein Vermögen nicht auf die Leistung anrechnen lassen müssen. Die Ampel plant nicht, beim Bürgergeld höhere Zahlungen zu geben als heute bei Hartz IV. Es bleibt dabei, dass Mitwirkungspflichten gelten. Die Sanktionen, die eintreten, wenn jemand gegen die Pflichten verstößt, wollen SPD, Grüne und FDP aber neu gestalten. Beim Bürgergeld gelten künftig laut Vertrag bessere Zuverdienstmöglichkeiten als jetzt bei Hartz IV. Aktuell kann jemand, der Hartz IV bekommt, nur 100 Euro im Monat hinzuverdienen (etwa in einem Minijob), ohne dass sein Anspruch auf Hartz IV sinkt. Höhere Hinzuverdienste werden mit der Hartz-IV-Zahlung verrechnet.

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Pflege Um Pflegekräften eine Anerkennung zu geben, können Boni bis zu 3000 Euro steuerfrei sein. Auch will die Ampel die Eigenanteile begrenzen, die Menschen heute zahlen müssen, wenn sie in einem Pflegeheim leben. In Baden-Württemberg sind das im Schnitt 2463 Euro im Monat, davon entfallen 1167 Euro auf die eigentliche Pflege – der Rest auf Investitionen und Unterkunft und Verpflegung. Auch plant die Ampel, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Es bleibt dabei, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist, die nicht alle Kosten abdeckt, die bei Pflegebedürftigkeit anfallen. Es wird aber geprüft, sie „um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen“.

Familie Mit Blick auf die Familien betont der Vertrag: „Wir wollen die Kinderrechte ausdrücklich im Grundgesetz verankern.“ Auch strebt die Ampel an, mehr Kinder aus der Armut zu holen. Bestehende Leistungen wie Kindergeld und Teile des Bildungs- und Teilhabepakets für Familien, die Hartz IV bekommen, sollen „in einer einfachen, automatisiert berechnet und ausgezahlten Förderleistung gebündelt werden“. Dies nennt sich Kindergrundsicherung. Ein Teil hängt davon ab, welches Einkommen die Eltern haben – der andere ist ein Garantiebetrag.

Landwirtschaft Den Unkrautvernichter Glyphosat nimmt die Ampel bis Ende 2023 vom Markt. Von 2022 an soll es eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung geben. Die Verbraucher erkennen beim Einkauf, wie ein Tier gehalten worden ist. Tiertransporte in Staaten außerhalb der EU sind künftig nur erlaubt, wenn die Tiere unterwegs an ausreichend Ruheorten versorgt werden können. Kennzeichnung und Registrierung von Hunden werden obligatorisch. Wer online ein Heimtier kauft, muss seine Identität angeben.

Gesundheit Die Coronakrise setzt die neue Regierung sofort unter Zugzwang. Die Koalitionäre haben sich auf die Einrichtung eines Krisenstabs im Kanzleramt verständigt, dessen Zuständigkeiten aber noch erklärungsbedürftig sind. Ansonsten sind die Partner offenbar der Meinung, dass der scheidende Minister Jens Spahn (CDU) das Gesundheitssystem mit seiner Hyperaktivität genug unter Stress gesetzt hatte. Oder – was wahrscheinlicher ist – für große Reformen lagen die Positionen der Ampelpartner zu weit auseinander. Große Umbrüche finden sich im gesundheitspolitischen Teil jedenfalls nicht. Zu den langfristigen Finanzierungsfragen finden sich nur Andeutungen. So werden die Krankenkassen dadurch entlastet, dass die Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf sieben Prozent abgesenkt wird, was den Kassen immerhin fünf Milliarden Euro im Jahr spart. Und höhere Beiträge von ALG-II-Beziehern sollen steuerfinanziert werden. Zum prekären Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung findet sich kein Wort im Vertrag. Zur Zukunft der Krankenhausfinanzierung, eigentlich ebenfalls eine wichtige Reformbaustelle, soll eine Regierungskommission eingesetzt werden. Eine gewisse strukturelle Änderung bedeutet aber die Aufhebung der Budgetierung der ärztlichen Honorare bei den Hausärzten. Die elektronische Patientenakte soll nun wirklich kommen. Bei den vielen kleinteiligen Vorhaben bleibt die Legalisierung von Cannabis das am stärksten glitzernde Teilchen des Mosaiks.

Innere Sicherheit Die Ampel setzt bei der Kriminalitätsbekämpfung auf drei Schwerpunkte: Dazu gehören der Kampf gegen die organisierte Kriminalität einschließlich der Clankriminalität und Kindesmissbrauch, aber auch der Kampf gegen Rechtsextremismus, den die neue genau wie die bisherige Koalition als größte Bedrohung für die Demokratie bezeichnet. Die Koalition will dafür das in der letzten Legislatur gescheiterte Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen, um zivilgesellschaftliche Gruppen zu stärken. Die Ampel will den 11. März zum nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt machen. Sie verspricht eine Gesamtstrategie gegen alle extremistischen Bestrebungen, zu der Prävention, Gefahrenabwehr und Deradikalisierung gehören. Der ampeleigene „Respekt“ soll sich gegenüber den Sicherheitsbehörden durch eine bessere Personal- und Sachausstattung ausdrücken. Zugleich will die Koalition gegen Radikalisierungstendenzen vorgehen, die Kennzeichnungspflicht von Polizisten und einen unabhängigen Polizeibeauftragten einführen sowie die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste verbessern.

Migration Der Koalitionsvertrag enthält ein Bekenntnis zu Deutschland als Einwanderungsgesellschaft – „Migration war und ist schon immer Teil der Geschichte unseres Landes“, heißt es da. Die Ampel hat sich vorgenommen, das Staatsangehörigkeitsrecht zu novellieren: Die Einbürgerung nach fünf Jahren soll der Regelfall werden, bei besonderer Leistung schon nach drei Jahren. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll auch für Kinder ausländischer Eltern nach fünf Jahren Aufenthalt Geburtsrecht werden.

Demokratie und moderner Staat Das Wahlrecht soll binnen eines Jahres reformiert werden, so dass der Bundestag kleiner wird. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden. Geprüft wird die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, die Begrenzung der Amtszeit des Kanzlers sowie die Parität. Die Versorgung mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard soll allen Menschen schnelles Internet bescheren. Dazu sollen digitale Bürgerrechte gestärkt werden, etwa durch ein Recht auf Verschlüsselung. Hersteller sollen zudem haften, wenn durch fahrlässige IT-Sicherheitslücken Schäden an einem Gerät entstehen.

Wirtschaft, Klima, Verkehr, Finanzen, Die Koalitionäre wollen die Themen Wirtschaft, Klimaschutz, Verkehr und Umwelt künftig gemeinsam denken. Sie wollen die Transformation und die Digitalisierung der Industrie, gerade der Autobranche, vorantreiben. Zu Elektromobilität und Verbrennerverbot heißt es: „Gemäß den Vorschlägen der Europäischen Kommission werden im Verkehrsbereich in Europa 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen – entsprechend früher wirkt sich dies in Deutschland aus.“ Bis 2030 sollen 15 Millionen vollelektrische Autos auf deutschen Straßen unterwegs sein. Für die Grünen besonders wichtig ist, dass der Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung deutlich vorgezogen wird. Bisher ist er für 2038 vorgesehen, jetzt soll er „idealerweise“ bereits 2030 gelingen. 2030 soll der Ökostrom-Anteil am Stromverbrauch bei 80 Prozent liegen. Solardächer auf Neubauten sollen neuer Standard werden. Die Ökostrom-Umlage, die bislang einen erheblichen Teil der Stromrechnung ausmacht, soll von 2023 an komplett aus dem Staatshaushalt beglichen werden.

Für den Verkehrssektor versprechen die Koalitionäre hohe Investitionen, die vorrangig in die Schiene fließen sollen. Der Deutsche-Bahn-Konzern bleibt erhalten, jedoch wollen die Ampelpartner die Netz- und die Bahnhofssparte unter seinem Dach zu einer Infrastruktursparte verschmelzen, die keine Gewinne abführen muss.

Die Partner rufen ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ aus – verweisen aber darauf, dass das Geld schon jetzt knapp ist. Die Schuldenbremse wird nicht angetastet, sie soll von 2023 an wieder greifen. Wie hoch die Investitionen in den kommenden Jahren ausfallen, wird nicht präzisiert. Für Klimainvestitionen soll der bestehende Energie- und Klimafonds weiter aufgefüllt werden, und zwar mit nicht genutzten Coronakrediten. Bundeseigene Unternehmen wie die Bahn-Infrastrukturtochter sollen sich Geld am Kapitalmarkt besorgen. Zudem wollen die Partner viel mehr privates Kapital mobilisieren, etwa mithilfe besonderer Abschreibungsmöglichkeiten. Geplant sind weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungsverfahren. Neue Steuern sind nicht geplant.

Viele Staatsausgaben sollen auf den Prüfstand gestellt werden, darunter das Dieselprivileg. Kaufzuschüsse und Steuervorteile für Plug-in-Hybride will die Koalition zurückfahren. Die Koalitionäre streben den Bau von 400 000 Wohnungen pro Jahr an, 100 000 davon sollen öffentlich gefördert sein. Der bundeseigene Immobilienverwalter Bima soll künftig selbst im großen Stil investieren und Wohnungen bauen. Die Mietpreisbremse soll bis 2029 verlängert werden. In Gegenden mit angespanntem Wohnungsmarkt sollen Mieten in bestehenden Verträgen nur noch um elf Prozent (bisher 15) innerhalb von drei Jahren steigen dürfen.