Volker Wissing 2021 auf dem Weg zu den Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen: Woran ist heute abzulesen, dass er den Klimaschutz groß schreibt? Foto: Imago images/Mike Schmidt

Der Verkehrssektor in Deutschland hat seine Klimaziele 2022 klar verfehlt. Weil die Verkehrswende keine Geschmacksfrage, sondern vom Klimaschutzgesetz vorgegeben ist, stellt sich die Frage: Was jetzt?

Deutlicher könnten die Zahlen nicht sein. Laut deutschem Klimaschutzgesetz hätten die CO2-Emissionen im Verkehrssektor vergangenes Jahr die Grenze von knapp 139 Millionen Tonnen nicht übersteigen dürfen. Laut am 15. März veröffentlichten Erhebungen des Umweltbundesamts (UBA) gehen fürs Jahr 2022 insgesamt 148 Millionen Tonnen CO2 auf das Konto des Verkehrssektors. Mit anderen Worten: krachend gescheitert.

Mit sichtlichen Bemühungen fällt Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) derweil eher an anderer Stelle auf. Sei es, dass das neu definierte „überragende öffentliche Interesse“ seiner Ansicht nach nicht nur auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Schiene angewendet werden soll, sondern auch auf den Straßenbau. Sei es, dass Wissing eine deutschlandweite Initiative von mittlerweile 537 Städten und Gemeinden links liegen lässt, obwohl diese fordert, was im Koalitionsvertrag steht: mehr Freiheit für eine zukunftsfähige Verkehrsplanung. Sei es die überraschende Blockade jüngst in Brüssel beim Verbrenner-Aus, die Deutschlands Ruf unter den europäischen Partner ziemlich befleckt haben dürfte.

Klimaschutzgesetzt fordert Sofortprogramme

Weil die Verkehrswende keine Geschmacksfrage ist, sondern vom Klimaschutzgesetz und vom Koalitionsvertrag gedeckt ist, stellt sich die Frage: Was jetzt? Viel Spielraum bleibt in der Theorie nicht. Das Klimaschutzgesetz fordert Sofortprogramme, wenn Sektoren binnen eines Jahres ihre Klimaziele reißen. Das Papier, das Wissing im Sommer 2022 für 2021 vorgelegt hatte, wurde sowohl vom Expertenrat als auch vom Wissenschaftlichen Dienst als unzureichend abgetan.

Weil das Verkehrsministerium ein angemessenes Sofortprogramm schuldig bleibt, hat die Umweltorganisation BUND Ende Januar 2023 Klage gegen die Bundesregierung eingereicht. Sie fordert im Verkehrs- und Gebäudesektor ein Sofortprogramm gemäß Paragraf 8 im Klimaschutzgesetz, sagt Franziska Heß, die mit der Kanzlei Baumann Rechtsanwälte den BUND zusammen mit dem Rechtsprofessor Felix Ekardt rechtlich vertritt; sie hatten auch das historische Klimaschutz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2021 per Klage ausgelöst. „Wir wollen, dass sich die Bundesregierung an ihre eigenen Gesetze hält“, so Heß. „Aus unserer Sicht ist die Rechtslage eindeutig.“ Im Verkehrsbereich seien die Verstöße besonders eindrücklich.

Ein Lob vom Kanzler könne auch gefährlich sein

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte Volker Wissing vor Kurzem einen „sehr, sehr guten Minister“. Gefragt, woran Scholz das festmachen könnte, antwortet der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel: „Kanzler-Lobe können sehr gefährlich sein.“ Doch gibt es aus Gastels Sicht etwas zu loben? Als Mitglied im Verkehrsausschuss hat er Einblick. „Es gibt nichts, schlicht und ergreifend nichts“, sagt Gastel. Er hat den Koalitionsvertrag mitverhandelt und sagt: „Ich erwarte nichts anderes als Vertragstreue.“ Die Blockadehaltung der FDP überrasche ihn, es werde alles aufgehalten, „jedes Komma“.

Wäre es aus Grünen-Sicht womöglich klüger gewesen, damals, als die Ministerien verteilt worden sind, aufs Verkehrsministerium zu pochen? „Wir hätten dieselben Diskussionen dann auch“, sagt Gastel. „Auch ein grüngeführtes Haus braucht die Zustimmung aller Koalitionspartner. Und die FDP würde alles infrage stellen.“

Anfang März hat Minister Wissing seine Verkehrsprognose vorgestellt. Demnach rechnet er bis 2051 mit einem Zuwachs von gut 30 Prozent für den Verkehr auf der Schiene – aber auch mit einem Plus von 54 Prozent für den Güterverkehr auf der Straße, heißt es. Für Wissing ein klares Signal für den Straßenausbau, eine Ableitung, die das Verkehrsministerium bei den Grünen nicht beliebter machen dürfte.

Das sagt Agora Verkehrswende zur aktuellen Lage

Wiebke Zimmer, stellvertretende Direktorin bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende, sagt über solche Prognosen: „Wenn das Ziel die Verkehrswende wäre und einige Vorhaben des Koalitionsvertrages wie zum Beispiel die Verdopplung der Nachfrage im Bahnverkehr bis 2030 ernst genommen würden, dann würde die Prognose anders aussehen.“ Es sei wissenschaftlicher Konsens, dass neue Straßen neuen Verkehr und dadurch wiederum volle Straßen verursachen. „Das ist ein Stück weit ein Teufelskreis“, sagt Zimmer. Verkehrswende bedeute, zum einen aufs E-Auto umzusteigen, aber auch gleichzeitig mehr Menschen für den öffentlichen Nahverkehr zu erwärmen. „Gut die Hälfte der Bevölkerung ist eher schlecht an den öffentlichen Verkehr angebunden“, sagt sie. Das müsse sich ändern.

„Im Moment sind wir in einer verfahrenen Situation“, sagt Zimmer. Dass die Ampelregierung trotz der Streitereien eine Ausfahrt finden kann, daran glaubt sie. „Die Koalition hat die besten Voraussetzungen dafür.“ Die Partner wollen ja Fortschritt und Klimaschutz. „Das müsste eigentlich funktionieren.“