Szene aus dem Gewinner-Film „Dog Apartment“. Foto: ITFS

Bei der Abschlussgala zur 30. Ausgabe des Internationalen Trickfilmfestivals in Stuttgart gab es glückliche Gewinner der Filmpreise, aber auch nachdenkliche Töne.

Den kleinen Jungen mit blau-grün unterlaufenem Gesicht sieht niemand im Gerichtssaal. Der Nachbar nicht, der steif und fest behauptet, die Eltern des Kindes hätten nie ein lautes Wort gesprochen. Die Mutter nicht, die aussagt, ihr Mann sei immer gut zu Kindern gewesen. Der einäugige Richter schon gar nicht. Das Kind selbst ist allerdings nur noch als Geist anwesend, die Erwachsenen faseln von einem Unfall mit Todesfolge. Während der Junge all dem zuhören muss, unfähig, sich zu äußern, klettern winzige Gestalten an seinem Körper hoch, um ihn zu trösten. Es sind Elemente aus selbstgemalten Bildern des Kleinen, Kinderkritzeleien, die plötzlich auf einen stummen Schrei des Jungen hin den gesamten Gerichtssaal zum Erzittern bringen.

Pointierte, ästhetische und inhaltlich starke Werke

„Le Cri du Silence“ des französischen Filmemacher-Teams Camille Anne, Camille Leroy, Julie Vandenbergue, Martin Laurent, Elisa Torris und Lucas Foutrier ist der erste Film, der bei der Abschlussgala des Internationalen Trickfilm-Festivals in Stuttgart am Sonntagabend ausgezeichnet worden ist. Der wenige Minuten kurze, inhaltlich pointierte und ästhetisch beeindruckende Film ist eine Arbeit von Studierenden im dritten Jahr ihrer Ausbildung und alles andere als eine frühe Fingerübung. Bei der diesjährigen Preisverleihung wird aufs Neue sichtbar, was der Trickfilm leisten kann, fernab landläufiger Vorurteile, das sei bloß Kinderkram und nicht relevant.

Dass der Film, insbesondere in animierter Form, weit weniger Wertschätzung erfährt als andere Kunstformen, ist kein Geheimnis. Einerseits ist das kostenlose Open-Air-Kino auf dem Stuttgarter Schlossplatz ein Publikumsmagnet – sofern es nicht regnet; tummeln sich Filmschaffende, Brancheninsider und Interessierte während des Festivals im Areal um die Innenstadtkinos. Andererseits verraten leise Untertöne während der Preisverleihungszeremonie, dass noch Luft ist nach oben in der Wahrnehmung und Akzeptanz des Festivals als wichtige Größe im Kulturleben der Stadt. So wünscht sich der Geschäftsführer der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, Carl Bergengruen, mehr Publikum in den nächsten fünf Jahren, was Geld koste. Animation sei die Zukunft des Filmemachens, betont er im Gespräch mit der Moderatorin Anja Lange. Die Filme würden von jungen Menschen gemacht, wie sie unter anderem an der Filmakademie in Ludwigsburg ausgebildet werden, sagt er, und verweist damit auf die Bedeutung der Filmakademie als Wirtschaftsfaktor in der nach wie vor auf die Automobil- und Maschinenbauindustrie ausgerichteten Region.

Unterfinanzierung der Branche

Wie prekär die Arbeit von Filmschaffenden tatsächlich ist, lässt jedoch der Auftritt von Jonatan Schwenk erahnen. Schwenk hat an der Hochschule Offenbach studiert und wird für sein Werk „Zoon“ mit dem 10 000 Euro-dotierten Lotte Reiniger Förderpreis ausgezeichnet. In poetischen Bildern beschreibt Schwenks nur wenige Minuten kurzer Film einen Lebenszyklus seltsamer Arten: Erst krabbeln weiß leuchtende Axolotl aus einem Fluss, um sich zu vermehren. Die Tierchen werden wiederum von sanften Riesen gefressen, die plötzlich zu schweben beginnen und in den Himmel aufsteigen. Dort erleben sie einen Sonnenaufgang im malerischen Wolkenspiel, ehe sie sich selbst in winzige glühende Stäubchen auflösen. Zurück bleibt der Himmel mit Wolken.

Schwenk kombiniert verschiedene Techniken, seine Figuren sind anrührend, die wortlose Erzählung ist so einfach wie klug. Die Ehrung und das Preisgeld bewegen den jungen Filmemacher sehr, würde man allerdings mehreren Produktionen wie seiner soviel Geld geben, seien diese noch immer unterfinanziert, sagt er mit zitternder Stimme. Viele Projekte könnten deshalb nicht realisiert werden. Einen beeindruckenden Überblick gibt der Abend dennoch. Der Este Priit Tender etwa fasst in „Dog Apartment“ mit surrealem Witz das Lebensdilemma vieler Menschen zusammen. Um sich seine Wohnung leisten zu können, muss ein Balletttänzer jeden Tag für die Kühe eines Metzgers in dessen Stall tanzen, damit diese Milch geben. Der Metzger entlohnt den Tänzer mit Würsten, die der Mann in seiner Wohnung dem laut bellenden Waschbecken in den Keramik-Schlund wirft, damit es Ruhe gibt. Für seine Darstellung des bitteren Verhältnisses von Anspruch und Wirklichkeit in kapitalistischen Gesellschaften wird Priit Tender mit dem Grand Prix ausgezeichnet. „I got the big Fish“, freut sich Tender überschwänglich und würde das versammelte Publikum am liebsten zu Champagner einladen. Er müsste allerdings viele Preise gewinnen, um die teure Zeche zahlen zu können.

Internationale Preisträger bei ITFS

Grand Prix
 „Dog Apartment“ von Priit Tender erhält den Grand Prix (10 000 Euro) vom Land Baden-Württemberg

Förderpreis
Den ebenfalls mit 10 000 Euro dotierten Lotte Reiniger Förderpreis erhält Jonatan Schwenk für seinen Film „Zoon“

Zuschauerauszeichnung
Der SWR-Publikumspreis

Der Junge
Das französische Team hinter „Ressources Humaines“ erhält den Young Animation Award (2 500 Euro)

Der Lange
José Miguel Ribeiro aus Portugal erhält für „Nayola“ über Frauen in Angola den Preis für den besten Animationslangfilm.

Klimafilm
Der Trickstar Nature Award (7 500 Euro) geht an David Crisp für seinen Zeichentrickfilm „A World in Chaos“ über die Klimakrise.

Fanpreis
„Le Cri du Silence“ aus Frankreich erhält den Fantastischen Preis (1000 Euro), gestiftet von Fans des Festivals.