Nicht überall bei der EM sind die Ränge leer – das Hygienekonzept steht in der Kritik. Foto: imago/Tilo Wiedensohler

Nach der steigenden Anzahl an positiven Coronatests bei der Handball-Europameisterschaft ist ein Rückzug für HBL-Chef Bohmann kein Tabu mehr.

Stuttgart - Es ist ja nicht so, dass keiner gewarnt hätte. „Das kann nicht gut gehen. Wenn, dann nur mit einer täglichen Testung, aber selbst dann bleibt noch ein Risiko“, hatte der Sportmediziner Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule in Köln vor der EM gesagt mit Blick auf die große Gefahr, dass Spieler mit einer noch unerkannten Infektion auf dem Feld stehen.

Das vom europäischen Handballverband (EHF) entwickelte Hygienekonzept sieht routinemäßige PCR-Tests aber nur alle zwei Tage vor. Auch die verpflichtenden Bubble-Regeln wie bei der WM 2021 in Ägypten gibt es nicht. „Dass das passiert, was jetzt passiert ist – da ist man sehenden Auges reingelaufen, das ist keine Überraschung“, sagte Bob Hanning, der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB), gegenüber unserer Redaktion. Das Schlimme daran: Die Ansteckungen hören nicht auf. Am Dienstag meldete der DHB mit Torwart Till Klimpke und Linksaußen Marcel Schiller die Coronafälle acht und neun. „Wenn eine so hochansteckende Variante wie Omikron einmal im Turnier drin ist mit so vielen Fällen, dann wird man das Virus nicht mehr herausbekommen“, prognostizierte Mediziner Bloch. Für ihn steht fest: „Wenn andere Teams jetzt ähnliche Infektionsketten wie die deutsche Mannschaft bekommen, wäre es ratsam, die EM abzubrechen.“

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Angesichts der steigenden Anzahl an Coronafällen im deutschen Team schließen auch Verantwortliche der Handball-Bundesliga (HBL) inzwischen einen Rückzug von der EM nicht mehr aus. „Wir müssen uns Gedanken machen. Die Situation ist kritisch. Wir werden sie gemeinsam mit dem DHB und dem europäischen Verband bewerten. Alle Varianten müssen auf den Tisch und mit allen Beteiligten ergebnisoffen diskutiert werden“, sagte HBL-Chef Frank Bohmann gegenüber unserer Redaktion. Geschäftsführer Bob Hanning von den Füchsen Berlin glaubt zwar, dass einzig Deutschland so viele Ausfälle verkraften könne. Sollte es aber „in den kommenden Tagen zu weiteren Fällen kommen, dann muss man die Positionen noch mal überdenken und eine neue Risikoabwägung vornehmen.“

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Mit einem fairen Wettbewerb habe die EM nicht mehr viel zu tun. Das Turnier bewege sich „in Richtung Farce“, sprach Ex-Nationalspieler Christian Schwarzer das aus, was viele denken. Er warnte vor möglichen negativen Folgen für die Sportart. „Wir müssen aufpassen, dass es am Ende nicht heißt: Die Handballer sind nicht ganz dicht und haben noch nie etwas von Corona gehört“, sagte er und ergänzte mit Blick auf die infizierten Spieler: „Wenn einer gesundheitliche Schäden davontragen würde, wäre das der absolute Super-GAU.“

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Der Zustand der Spieler ist für HBL-Chef Bohmann der entscheidende Aspekt in der Frage, ob die EM fortgesetzt werden soll: „Unabhängig von sämtlichen Reglements gilt es, das gesundheitliche Risiko zu bewerten. Was rechtfertigt ein Weiterspielen, was rechtfertig ein Nicht-Weiterspielen.“ Auch Verträge mit Sponsoren oder TV-Partnern und möglicherweise drohende Repressalien dürften laut Bohmann bei der Abwägung keine Rolle spielen: „Am allerwenigsten können wir uns leisten, dass sich noch mehr Spieler infizieren.“

Trotz aller Warnungen zögerte Hanning nicht, seine beiden Berliner Spieler Fabian Wiede und Paul Drux in den Corona-Hotspot nachreisen zu lassen: „Die Spieler waren bereit zu helfen, wollten unbedingt einspringen, und das Risiko einer Ansteckung gibt es überall.“ Bundestrainer Alfred Gislason hatte für das Spiel gegen Polen neben Wiede und Drux auch Linksaußen Rune Dahmke (THW Kiel), Kreisläufer Sebastian Firnhaber (HC Erlangen) und Torwart Johannes Bitter (HSV Hamburg) nachnominiert. Nach den Ausfällen von Schiller und Klimpke werden auch Patrick Zieker (TVB Stuttgart) und Daniel Rebmann nach Bratislava reisen. Der Keeper von Frisch Auf Göppingen könnte an diesem Donnerstag gegen Spanien sein erstes Länderspiel bestreiten. „Wenn man sagt, dass man im Notfall bereit ist und der Bundestrainer anruft, dann muss man zu seinem Wort stehen“, sagte Bitter, der gegen Polen 60 Minuten durchspielen musste.

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Auch andere Teams waren oder sind stark von Corona betroffen. Vor allem Polen, Serbien, Montenegro und Kroatien. Der kroatische Star Domagoj Duvnjak wurde getestet, musste in Quarantäne und befindet sich nun als Folge der Isolation mit Rückenproblemen daheim in Kiel. Ob er bei der EM noch einmal aufläuft, ist offen. In Anbetracht der prekären Lage schrillen bei den Bundesligisten die Alarmglocken. „Neben einem milden Verlauf für die Infizierten wünschen wir uns natürlich, dass der Bundesligastart wie geplant stattfinden kann. Zur Not muss man den ersten Spieltag eine Woche nach EM-Ende verlegen“, sagte Jürgen Schweikardt, der Geschäftsführer des TVB Stuttgart, und ergänzte: „Dass die EM stattfindet, ist zwar wichtig für unsere Sportart, aber das Hygienesystem hätte deutlich straffer sein müssen.“

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Dieses Konzept hat EHF-Generalsekretär Martin Hausleitner verteidigt: „Die möglichen Missstände wurden angesprochen und behoben“, behauptete er. Einen Abbruch zieht die EHF derzeit nicht in Betracht. „In einem Mannschaftssport wie Handball und auch in einem Fall wie dem Spiel Deutschland gegen Polen zeigt sich, dass die Möglichkeit gegeben ist, Nachrücker zu nominieren und zum anderen, dass die Qualität dieser Nachrücker sehr hoch ist“, sagte der Österreicher. Dies bestätigte sich beim 30:23 der DHB-Auswahl. Die Probleme rund um Corona werden dadurch jedoch nicht kleiner.