Die 17-jährige Ruby (Emilia Jones) erlebt mit Miles (Ferdia Walsh-Peelo) ihre erste Liebe. Drum herum aber hat sie Probleme, die nicht alle Teenager kennen. Foto: imago//Seacia Pavao

Die Tochter gehörloser Eltern steht vor einer schweren Entscheidung: Weiter der Familie helfen oder das eigene musikalische Talent ausbauen? Ist „Coda“, bei den Oscars als bester Film gekrönt, Schnulze oder Treffer?

Wie sollte ein Spielfilm, der von tauben Menschen erzählt, am besten beginnen? Laut, meinen die Macher von „Coda“, dem großen Gewinner der Oscar-Nacht, ruppig, fröhlich lebenszugewandt: mit dem Brausen des Meeres, dem dröhnenden Motor eines Fischkutters, dem Scheppern des gerade an Bord gehievten Fangnetzes, aufgeregtem Möwengekreische, das alles arrangiert zu gut integrierten Fünft- und Sechststimmen einer musikalischen Performance.

Die 17-jährige Ruby (Emilia Jones), die einzig normal Hörfähige in ihrer Familie aus Mutter Jackie (Marlee Matlin), Vater Frank (Troy Kotsur) und Bruder Leo (Daniel Durant), sortiert Fische in Kisten und singt dabei aus voller Kehle mit der R-&-B-Königin Etta James, deren Stimme aus einem tragbaren Lautsprecher fegt, „Something’s got a Hold on me“ um die Wette.

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Wer bei James mithalten kann, den hat ein Film schon mal sehr überzeugend als imposantes Stimmtalent etabliert. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Sian Heder, Jahrgang 1977, vergisst über solchen großen Gesten aber auch nie die kleinen. Wie Ruby übers Deck läuft, sich in einer Routinebewegung an ihren eigenen Klamotten die Hände sauber wischt, das zeigt: Sie hilft ihrer Familie nicht zum ersten Mal bei der Arbeit. Kaum im Hafen, radelt Ruby zur Highschool, wo sie erschöpft im Unterricht einschläft. Wir merken, dass sie unter einen Hut zu bringen versucht, was kaum zu vereinbaren ist, das Leben für ihre Familie und das Erarbeiten von Startchancen für eine eigene Existenz.

Keine dick auftragende Schnulze

Gleich drei Oscars – bester Film, bestes adaptiertes Drehbuch, beste männliche Nebenrolle – in einem Jahr, in dem die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences ihre Gunst viel breiter streuten als sonst, keinen überragenden Vielfachgewinner schaffen wollten und sogar den Favoriten „The Power of the Dog“ mit nur einem Preis abfertigten: So eine herausstechende Zuneigung zu „Coda“ kann misstrauisch machen. Hollywoods Oscar-Verleiher mögen sentimentale, schön fotografierte, intensiv gespielte Behindertenschnulzen, die einem edel ertragenes Leid und triumphale Überwindung wie Brotaufstrich auf die Seele schmieren. Man muss kein Hardcore-Fan von superheldenprallem Krawallkino sein, um sich vorurteilsgetrieben vorzunehmen, um „Coda“ einen Bogen zu machen.

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Aber dieser Wohlfühlfilm ist anders, nicht süßlich, sondern robust, nicht aufs Leidenstremolo versessen, sondern auf die humorvolle Auflösung von Spannungen: Ermutigungskino der entspannten Sorte. Rubys Familie flucht und lästert in Zeichensprache, was uns in Untertiteln unverblümt verständlich gemacht wird, es geht um Sex, Lust und Bettprobleme, auch mal um Furzwitze, und auch bei den Konflikten in der Fischereiwelt nehmen Frank, Leo und Jackie kein Blatt vor die Hände. Wer will, kann hier eine Menge Kraftausdrücke in Gebärdensprache lernen.

Keine Angst vor falschen Tönen

Heder hat offenbar keinen Moment Angst, den falschen Ton zu treffen, den Eindruck zu erwecken, sie mache sich über ihre Figuren lustig. Dabei hilft ihr, dass Matlin, Kotsur und Durant selbst gehörlos sind. Schon beim Sundance-Filmfestival haben die unverkrampfte Amüsierlust, gekoppelt mit Respekt vor den Charakteren, Aufmerksamkeit erregt. Aber „Coda“ (der Titel bezieht sich auch auf die gängige Abkürzung für Menschen wie Ruby, für Children of deaf Adults, die Kinder Gehörloser also) ist auch ein klassischer Formelfilm: eine erste Liebe, das Erreichen unerreichbarer Ziele, die Hilfe durch einen engagierten Lehrer, der Moment der großen Krise, die Unvereinbarkeit von Rubys Pflicht, den Eltern zu helfen, und ihrem Wunsch, ihr musikalisches Talent in einer guten Schule auszubauen, die märchenhafte Auflösung des Ganzen – das alles und noch mehr stammt aus dem Baukasten.

Man kann mit vielen Argumenten meckern, den Oscar als bester Film habe „Coda“ nicht wirklich verdient. Aber das kommt nicht an gegen Emilia Jones, deren Aura lebenstüchtiger Zartheit, gegen die Vitalität der anderen, gegen die punktgenaue Inszenierung, die öde Übertreibung meidet. „Coda“ läuft zwar nicht im Kino, sondern beim Streamingdienst Apple TV+, und Streaming hat die Academy bislang lieber kleingehalten. Obendrein hat Apple den Film nicht selbst produziert, sondern nach Sundance weggekauft, eigentlich war er fürs Kino vorgesehen. Darauf reagiert die alte Schule Hollywoods auch gern allergisch. Aber die vielen Oscar-Juroren sind eben dem erlegen, was „Coda“ausmacht: dem Charme.

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Die Regisseurin Sian Heder

Erfahrung
Sian Heder, 44, hat als Autorin und Regisseurin für erfolgreiche TV-Serien gearbeitet, für „Orange is the new Black“ und „Glow“, und war Produzentin der Apple-Serie „Little America“.

Lerneffekt
Als sie für „Coda“ die Gebärdensprache lernte, sagt Heder, habe ihr das eine ganz neue Perspektive eröffnet: Sie habe diese optische Verständigung als filmtauglichste Sprache überhaupt begriffen.