Fifa-Präsident Gianni Infantino Foto: dpa/Robert Michael

Fifa-Präsident Gianni Infantino holt kurz vor Beginn der Fußball-WM in Katar zu einem Rundumschlag gegen die Kritiker des Mega-Events aus. Der Schweizer geißelt die Doppelmoral des Westens und fordert Dialog statt Provokation. Ein denkwürdiger Auftritt.

Einen Tag vor Beginn der Fußball-WM in Katar hat Fifa-Präsident Gianni Infantino einen denkwürdigen Auftritt hingelegt. Gemäßigten Schrittes betrat der Schweizer am Samstagvormittag den großen Pressesaal des Medienzentrums in Doha. Dann nahm er auf dem Podium Platz – und legte los. Schnell wurde klar. Es brodelt in Infantino. Da will sich ein Spitzenfunktionär Luft verschaffen, seinen Verdruss loswerden, der Welt seinen Standpunkt mitteilen. Die Kritik im Vorfeld des Turniers, am umstrittenen Gastgeber und dessen Umgang mit Menschenrechten hatten dem 52-Jährigen offenbar mächtig zugesetzt. Also setzte er zu einem fast einstündigen Monolog an, in dem er munter zwischen Rechtsfertigungs- und Angriffsmodus hin und her wechselte. Scharf wies Infantino die Vorwürfe zurück. Er verteidigte den WM-Gastgeber, geißelte die Doppelmoral der westlichen Welt und appellierte am Ende an die Öffentlichkeit, sich doch bitteschön endlich auf den Fußball zu konzentrieren.

Zu Beginn der One-Man-Show in Doha hatte Infantino zu einem Rundumschlag gegen die Presse ausgeholt, die geäußerte Kritik „zutiefst ungerecht“ genannt und von „Heuchelei“ gesprochen. Im nächsten Augenblick solidarisierte sich der Fifa-Chef mit Arbeitsmigranten, Frauen und der LGBTQ-Gemeinschaft. „Heute habe ich sehr starke Gefühle“, betonte Infantino, machte eine Pause, holte tief Luft, schaute in den großen Saal und fuhr so fort: „Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant.“

Laut Gesetz ist Homosexualität in Katar verboten und wird mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. Doch Infantino sagte: Jede und Jeder, unabhängig von Herkunft, religiöser und sexueller Orientierung, sei bei dieser WM willkommen und dürfe sich sicher fühlen. Die von der katarischen Regierung eingeräumte Sicherheitsgarantie bezeichnete Infantino als „Anforderung der Fifa“. Nicht alles sei perfekt in Katar. Das Land aber habe gesellschaftspolitisch durchaus Fortschritte gemacht. „Wandel und Reformen benötigen aber Zeit. Es ist ein Prozess.“

„Wir sollten lieber mal in den Spiegel schauen, bevor wir andere kritisieren“

Deutschen, Franzosen, Engländern und anderen Kritiker auf dem europäischen Kontinent schrieb er folgendes hinter die Ohren: „Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen.“ Infantino erinnerte in dem Zusammenhang auch daran, dass es bis in die 1990er Jahre gedauert habe, bis der letzte Kanton in seiner Heimat Schweiz ein Wahlrecht für Frauen eingeführt habe.

Über Fußball, das Eröffnungsspiel am Sonntag (17 Uhr/ZDF/MagentaTV) zwischen Katar und Ecuador, die erste Fußball-Weltmeisterschaft in einem arabischen Land, sprach niemand während dieser bemerkenswerten Auftaktpressekonferenz. Auch Infantino nicht. Der Schweizer redete über das WM-Gastgeberland, das tausenden Migranten Arbeit und damit Hoffnung gebe, während Europa seine Grenzen schließe, viele Flüchtlinge beim Versuch, den alten Kontinent zu erreichen, ihr Leben verlören. „Wir sollten lieber mal in den Spiegel schauen, bevor wir andere kritisieren“, sagte der Fifa-Präsident und warb für einen ausdauernden Dialog. Permanente und harsche Kritik nannte er kontraproduktiv. Sie werde als Provokation wahrgenommen. „Die Reaktion wird dann eher sein, sich noch mehr zu verschließen.“

Als Zeichen des Fortschritts wertete der Fifa-Chef die Gründung eines Zentrums für Arbeitsmigranten in Kooperation mit der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO). In Doha hätten die Menschen künftig eine zentrale Anlaufstelle, wo sie Unterstützung erhalten, wenn es etwa um ausstehende Löhne geht,

Keinerlei Verständnis brachte der Schweizer für die Aufregung um das erst am Freitag ausgesprochene Bierverbot in den und rund um die acht WM-Stadien aus. „Ganz ehrlich: Wenn das unser größtes Thema bei der WM ist, dann werde ich das sofort unterschreiben, zum Strand gehen und bis zum 18. Dezember entspannen“, sagte Infantino. „Ich persönlich finde: Wenn Fans für drei Stunden am Tag kein Bier trinken können, werden sie das überleben.“