Nachdenklicher Blick: Bundestrainer Hansi Flick hat bis zur WM noch einiges zu tun. Foto: Baumann/Hansjürgen Britsch

Das deutsche Team will bei der Fußball-WM in Katar um den Titel spielen. Doch bis zum Turnierstart gibt es entscheidende Fragen zu beantworten.

Ein patzender englischer Torhüter, ein Abstaubertor, ein 3:3 in einem sportlich unbedeutenden Fußball-Länderspiel – es gibt Dinge, die sind aufsehenerregender als das, was am späten Montagabend in der Schlussphase der Partie der deutschen Nationalmannschaft in London passierte. Und doch haben sie eine gehörige Wichtigkeit – zumindest in den Augen von Hansi Flick.

„So können wir das besser verkraften als eine Niederlage. Nicht aufzugeben ist das, was wir brauchen“, sagte der Bundestrainer nach dem Abschluss der Saison in der Nations League gegen England. Und gab damit das Motto für die kommenden Wochen vor.

Am 23. November startet die deutsche Mannschaft gegen Japan in das WM-Turnier in Katar. Und nach den beiden Länderspielen gegen Ungarn (0:1) und England (3:3) ist von der Aufbruchstimmung, die Flick nach seinem Amtsantritt im August 2021 versprüht hatte, nicht viel geblieben. Aus „20 Minuten wirklich gutem Fußball“ muss er sich nun seine Zuversicht ziehen – schließlich will das DFB-Team bei der umstrittenen Wüsten-WM nach wie vor um den Titel mitspielen.

Es bleibt vor der WM kaum Zeit für die Vorbereitung

„Wie soll das funktionieren?“, fragen sich viele Beobachter nach zuletzt nur zwei Siegen in acht Länderspielen in diesem Jahr. Zwar haben auch andere vermeintliche Favoriten derzeit so ihre Probleme, mit Blickrichtung WM tauchen in Bezug auf das deutsche Team aber fünf große Fragezeichen auf.

Der Zeitplan Ein Trumpf deutscher Mannschaften war vor großen Turnieren schon oft die Vorbereitungszeit. So auch 2014, als Löw-Assistent Flick das DFB-Aufgebot in mehreren Wochen auf das am Ende erfolgreiche Turnier in Brasilien vorbereitete. Sportlich und in Sachen Gruppendynamik. Diese Zeit fehlt dem wankelmütigen Team in diesem Jahr. Das WM-Aufgebot trifft sich am 14. November, schon am 23. November wird es gegen Japan ernst. Dazu kommt: Bis dahin sind die Nationalspieler in zahlreichen Vereinsspielen gefordert und kommen eher gestresst als ausgeruht zum Nationalteam. Über digitale Inhalte, persönliche Gespräche und Stadionbesuche will Flick seine Nationalspieler schon vor dem Treffen Mitte November auf die WM vorbereiten.

Die Blockkrise Die Nationalmannschaft profitierte schon oft von einer Blockbildung. Sprich: Mehrere Spieler, die auch im Verein zusammenspielen, bilden das Gerüst einer funktionierenden DFB-Elf. Oft kam ein erfolgsverwöhnter Bayern-Block zu den Länderspielen – doch das ist derzeit ganz anders. Die Münchner suchen auch in der Bundesliga ihre Form, weshalb Hansi Flick auch auf Julian Nagelsmann angewiesen ist. Der Bayern-Trainer muss sein Team bis zur WM-Pause in die Erfolgsspur zurückbringen. Nur, wenn dies gelingt, profitiert auch das Nationalteam.

Klingt einfach, ist es aber nicht – wie die Aussage von Thomas Müller bestätigt: „Na klar ist jetzt für uns Bayern-Spieler der Fokus voll auf den nächsten Wochen. Das wird anstrengend genug.“

Die Unerfahrenen Jedes funktionierende Nationalteam benötigt einen guten Mix aus gestandenen Spielern und frischen Kräften. Den hat die deutsche Mannschaft – eigentlich. Doch fällt auf, dass manch Arrivierter nicht einfach so durch ein nachkommendes Talent ersetzt werden kann. Siehe Nico Schlotterbeck. Der Abwehrspieler hat sich in den vergangenen zwei Jahren enorm entwickelt und gilt als Versprechen für die Zukunft. International spielt er aber erst seit dieser Saison beziehungsweise im Nationalteam – wo er zuletzt gleich mehrfach einen Elfmeter verschuldet hat. Ähnlich verhält es sich mit David Raum. Der Linksverteidiger entwickelte sich im Eiltempo, ging nach nur einem Jahr in Hoffenheim nach Leipzig, wo er wie im Nationalteam plötzlich ganz anders gefordert ist. Das erzeugt auch Druck. Lediglich Jamal Musiala ist eine gewinnbringende Unbekümmertheit anzumerken, bei Florian Wirtz ist fraglich, ob er nach seinem Kreuzbandriss bis zur WM rechtzeitig fit wird.

Die Flaute im Sturm Zwei Treffer hat Kai Havertz im Wembley-Stadion erzielt – und damit, laut Flick, „eine gute Visitenkarte abgegeben“. Das deutsche Sturmproblem löst der England-Legionär vom FC Chelsea damit aber nur bedingt. Einen echten Mittelstürmer kann sich der Bundestrainer bis zur WM nicht mehr backen. Lukas Nmecha konnte seine angedeutete Entwicklung zuletzt nicht fortführen. Die diskutierten Überraschungsalternativen wie der Bremer Niclas Füllkrug verkörpern auch keine echte Hoffnung. Weshalb es darauf ankommen wird, dass etwa Timo Werner in der kurzen Zeit bis zum WM-Start doch noch in Form kommt. Und dass – siehe oben – die Münchner Offensivkräfte Thomas Müller, Serge Gnabry und Leroy Sané wieder mehr Zug zum Tor entwickeln.

Die Causa Müller Der angesprochene Thomas Müller steht vor seinem vierten WM-Turnier. Und obwohl auch er derzeit schwankende Leistungen anbietet, ist er im Nationalteam nach wie vor einer der Führungsspieler – und das Sprachrohr. Auch nach der Partie in London hob er sich diesbezüglich von der schweigenden Mehrheit seiner Kollegen ab. Damit nimmt der Münchner seinem Team viel ab. Sportlich könnte der Bundestrainer aber gezwungen sein, zumindest in der Startelf auf den Weltmeister von 2014 zu verzichten. Jamal Musiala (Flick: „Er hat gezeigt, was ihn auszeichnet – genau das brauchen wir“) und Kai Havertz sind zwei Gewinner des letzten Härtetests. Sollen beide in der Startelf stehen, was viele Experten als absolutes Muss erachten, wird es für Thomas Müller eng. Für Hansi Flick ergibt sich daraus ein durchaus kniffliger Fall.

Flick gibt sich optimistisch

Das gilt für die Gesamtsituation sowieso. Flick muss vor der WM die Missstände klar benennen und alles daran setzen, sie zu beheben. „Gerade bei einer WM sind solche Dinge tödlich“, sagte er am Montag über die drei Gegentore innerhalb von zwölf Minuten, „da scheidet man schneller aus, als man denkt.“ Andererseits muss er aufkommenden Pessimismus im Keim ersticken. „Ich bin ein Trainer, der die Spieler lieber einen Kopf größer macht“, gab er einen Einblick, auf welche Sichtweise er Wert legen wird, „das bringt am Ende vielleicht den einen oder anderen Sieg mehr.“ Bei der WM wird das deutsche Team einige davon brauchen.