Münchens Benjamin Pavard (Nummer 5) foult BVB-Profi Jude Bellingham – doch der Elfmeterpfiff bleibt aus. Foto: IMAGO/Jan Huebner/IMAGO/Eduard Martin

Die Diskussionen um den Video-Schiedsrichter haben einen neuen Höhepunkt erreicht. Für Ex-Fifa-Schiedsrichter Knut Kircher aus Rottenburg ist er dennoch ein eindeutiger Gewinn.

Es sind vor allem zwei Szenen vom vergangenen Bundesliga-Wochenende, welche die Gegner des Videoassistenten im deutschen Spitzenfußball vollends auf die Palme gebracht haben: So grätschte beim Spitzenspiel in München der FCB-Verteidiger Benjamin Pavard beim Stand von 2:1 für die Bayern den BVB-Profi Jude Bellingham dicht vor dem eigenen Tor um – doch der Elfmeterpfiff blieb ebenso aus wie ein Eingreifen des Video-Assistenten. „Hier hätte eine Intervention erfolgen müssen“, das räumt inzwischen Jochen Drees ein, der als Projektleiter Video Assistant Referee (VAR) beim Deutschen Fußball-Bund fungiert.

Auch in Leipzig hätte es nach Ansicht von Drees nach einem Foul von Nordi Mukiele an dem Unioner Niko Gießelmann einen Strafstoß geben müssen. Schiedsrichter Daniel Schlager erhielt auch einen Hinweis des VAR Markus Schmidt – doch er blieb bei seiner Entscheidung.

Unter dem Strich erscheint also nicht nur die Feinabstimmung der Gespanne auf dem Platz mit der Zentrale in Köln verbesserungswürdig – es ist sogar von einem neuen Höhepunkt der Kontroverse die Rede: Denn gefühlt wird in der Bundesliga aktuell häufiger über Fehlentscheidungen der Unparteiischen diskutiert als noch vor der Einführung des Videobeweises vor fünf Jahren.

Kircher spürt eine gewisse Verunsicherung

Auch für den ehemaligen Bundesliga-Schiedsrichter Knut Kircher stottert es derzeit ein wenig im Zusammenspiel mit dem VAR: „Ein Schiedsrichter mit Videoassistenz ist wie ein Hochseilartist, der nun das Glück hat, ein Netz zu haben, wenn er mal bei einer wichtigen Entscheidung auf die Nase fällt“, sagt der 53-Jährige, der 2012 zum Schiedsrichter des Jahres gewählt wurde: „Er ist aber weiter derjenige, der selbstsicher entscheiden muss. Punktuell könnte man zu der Meinung kommen, dass einige Schiedsrichterkollegen hier etwas verunsichert zu sein scheinen.“

Von der Diskussion um einen vermeintlich neuen Tiefpunkt beim Video-Referee hält Kircher aber nichts: „Der VAR hat seit Beginn ein Akzeptanz-Problem, weil er immer dann hinterfragt wird, wenn etwas schiefgelaufen ist. Er besitzt aber eine absolute Daseinsberechtigung, weil viele klare Fehlentscheidungen korrigiert wurden“, sagt der Rottenburger, der in der Liga weiterhin als Schiedsrichter-Beobachter tätig ist: „Wir überprüfen in der Bundesliga wahnsinnig viel. Zu viel“, sagt Kircher: „Der Videoassistent ist aber nicht dafür da, um etwa die Korrektheit von Eckbällen und Einwürfen zu kontrollieren.“

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Um das aktuelle Niveau zu heben, fordert Lothar Mattäus den Einsatz von ehemaligen Profis. Ex-Fußballer könnten strittige Szenen „besser bewerten, weil wir selber permanent und jahrelang in diesen Situationen waren und wissen, wie es aussieht, wenn man foult oder gefoult wird“, findet der Rekord-Nationalspieler. Der DFB zeigt sich generell offen für alle Vorschläge, welche den aktuellen Status quo verbessern. „Diese sollten aber fernab von emotionalen sowie spieltagsbezogenen Diskussionen sachlich bewertet werden“, erklärte der Schiedsrichter-Chef Lutz Michael Fröhlich.

Scharfe Grundsatzkritik übt derweil der ehemalige Schiedsrichter Manuel Gräfe in einer Kolumne der „Bild“-Zeitung: „Es wird Zeit, nachdem der DFB die Schiedsrichterei strukturell und personell zwölf Jahre gegen die Wand gefahren hat, die Verantwortungsfrage zu stellen“, schreibt der frühere Fifa-Schiedsrichter, der nach seinem altersbedingten Ausscheiden, das er so nicht akzeptieren wollte, mit dem Verband in einem Clinch liegt.

Manuel Gräfe als Chefkritiker

Für Gräfe sind die Ursachen der aktuellen Krise rund um den VAR vor allem personeller Natur. So werde „trotz eindeutiger TV-Bilder“ falsch entschieden. Dies liege an der Qualität des Personal, bei dessen Auswahl das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt worden sei, da man laut Gräfe beim DFB „lieber nach persönlichen, regionalen oder politischen Aspekten die Schiedsrichter für Positionen oder Aufgaben auswählt.“

Knut Kircher kann die Kritik seines ehemaligen Kollegen aus Berlin nicht nachvollziehen. „Die Karriere von Manuel Gräfe, der bis zum Fifa-Schiedsrichter aufgestiegen ist, wurde ja auch nach dem Leistungsprinzip bewertet, davon gehen er und ich aus“, sagt Kircher, der inzwischen als leitender Ingenieur bei Mercedes-AMG tätig ist und der sich intensiv mit seinen eigenen Richtlinien bei der Bewertung der Unparteiischen als Beobachter auseinander gesetzt hat. „Bei der Beurteilung einer Schiedsrichter-Leistung gibt es kaum Messbares, sondern es entscheiden subjektive Kriterien“, sagt Knut Kircher – und er ergänzt anlässlich der aktuellen Kritik von Manuel Gräfe: „Ich bin mir sicher, dass es sich die Leute in den leitenden Funktionen beim DFB in ihren Beurteilungen nicht leicht machen – und habe ein absolutes Vertrauen.“