Ein fiktives Wohnhaus in einer fiktiven afghanischen Stadt. Seitdem die Taliban an der Macht sind, verlässt Parisa Ahmadi das Haus kaum noch. Foto: Adobe Stock/Torsten Pursche/Creative Footage/Montage/Illustration: Richard Múdry/Jana Gäng

Im Sommer 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über Afghanistan und damit über das Leben von Parisa Ahmadi*. Einblick in den Alltag einer jungen Frau, deren Welt auf ein Wohnhaus schrumpfte. *Name geändert

„Das ist keine gute Frage für das Ende eines Gesprächs. Sie macht mich traurig“, flüstert Parisa Ahmadi*. Seit zwei Stunden läuft das Telefongespräch nach Herat bereits, wo Parisa lebt. Am 12. August 2021 haben die Taliban die Macht in der zweitgrößten afghanischen Stadt übernommen, drei Tage später fiel mit der Hauptstadt Kabul der Rest des Landes. Und mit dem Land geriet Parisas Leben unter die Kontrolle der radikalislamistischen Bewegung.

Wenig war zuletzt aus Afghanistan zu hören, also soll Parisa Ahmadi erzählen: Wie sieht ihr Alltag unter den Taliban aus? Wie lebt es sich als junger Mensch – 23 Jahre ist Parisa alt – in Afghanistan; als Frau? Und Parisa erzählt, zuerst schüchtern. Später ist die Wut in ihrer Stimme zu hören und immer wieder ihr heiseres Lachen, trotz allem. Jetzt aber ist es still. Dann ein Schluchzen aus dem Telefon, ganz leise. Es ist keine gute Frage für ein Ende, also steht Parisas Antwort hier zu Beginn: „Nein, Hoffnung habe ich keine mehr. Vielleicht gibt es irgendwann Hoffnung für unser Land, aber ich werde dann alt sein. Was nützt sie mir dann?“

„Wenn ich in die Küche gehe, werfe ich als Erstes den Kochlöffel auf den Boden.“

Tatsächlich ist es ein Scherz, mit dem das Gespräch beginnt. Was Parisa beruflich macht, ist die Frage. „Köchin“, antwortet sie. Parisa studierte Recht an der Universität von Herat. Sie träumte davon, oben zu stehen, als Generalstaatsanwältin des Landes oder wenigstens als Richterin in Herat. Neben der Uni arbeitete sie für eine Wahlkommission, erklärte Frauen und Mädchen, warum sie wählen gehen sollten und wie das funktioniert. Einmal übersetzte Parisa die afghanische Verfassung in einfache Sprache, damit jeder sie verstehen kann. „Seltsam, nicht wahr?“, sagt sie: „Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der erste Artikel unserer Verfassung lautet.“

Als die Taliban im August 2021 Afghanistan mit Schüssen in die Luft als das ihre feierten, versprachen sie viel. Frauenrechte wollten sie achten. Sie seien nun moderater, wollten sich distanzieren von dem, was in den 90ern mit den Frauen unter ihrer Herrschaft geschah. Kein halbes Jahr später wurden Mädchen und Frauen wieder aus Sekundarschulen und Universitäten verbannt.

Seitdem ist Parisas Alltag auf immer gleiche Abfolgen geschrumpft: aufstehen, Geschirr spülen, waschen, kochen, fernsehen. „Wissen Sie, was ich als Erstes tue, wenn ich in die Küche gehe? Ich nehme den Kochlöffel und werfe ihn auf den Boden. Jedes Mal. Früher habe ich gearbeitet, gelernt, nachgedacht. Jetzt ist meine einzige Aufgabe, für meine Familie zu kochen. Morgens überlege ich: Was soll ich mittags kochen? Nach dem Mittagessen frage ich mich: Was soll ich zum Abendessen kochen?“

Früher tanzten und sangen sie im Fernsehen, heute laufen religiöse Formate

Parisa langweilt sich. Wie langsam können Stunden vergehen? Manchmal schläft sie absichtlich lang. Im Fernsehen laufen jetzt religiöse Sendungen, Parisa hasst sie allesamt. Ein paar Unterhaltungsprogramme konnten sich retten. Aber in „Ro Dar Ro“, einer Spielshow ähnlich dem deutschen „Familien-Duell“, tanzen und singen die Kandidaten nicht mehr, sagt Parisa. Kandidatinnen treten überhaupt nicht mehr an. Eisern wacht das Ministerium der Tugenden und Laster über das Programm. Früher sah Parisa zu, wenn die Aktivisten und jungen Menschen bei Saracha auf Tolo TV diskutierten. Heute laden sie dort Taliban zu den Debatten ein. Der Fernseher läuft trotzdem, sagt Parisa: „Ich warte auf die Schlagzeile, dass die Taliban ihre Restriktionen zurücknehmen.“

Instagram ist ein besseres Fenster zur Welt, schwieriger zu kontrollieren. Parisa folgt dort ihren Professoren, afghanischen Journalisten, Schriftstellern, ihren Freunden. Viele haben Afghanistan verlassen. Aber auch hier muss Parisa aufpassen. Nie würde sie die Taliban offen kritisieren.

„Mein letzter Post war über einen weisen persischen Schriftsteller – ein bisschen wie Shakespeare. Er wurde gefragt, was schwieriger zu ertragen ist als der Tod. Wenn gebildete Menschen von Ignoranz gefangen sind, hat er geantwortet. Verstehen Sie?“

Nur einmal im Monat verlässt Parisa das Haus, weil sie Angst vor den Taliban hat

Herat liegt im Westen des Landes, die Großstadt schmiegt sich an eine Gebirgskette. Von einigen Hügeln lässt sich die ganze Stadt überblicken, beim Sonnenuntergang sei es besonders schön. Es gibt einen Vergnügungspark mit Riesenrad, die breite „64-Meter-Straße“ zum Flanieren.

Parisas Welt hat jetzt vier Stockwerke – ein Frauenleben, beschnitten auf ein Backstein-Haus. Hier lebt Parisa mit ihren Eltern, ihrer Schwester, ihren Brüdern und deren Familien. Das Haus verlässt sie nur noch einmal im Monat, vielleicht seltener, sagt sie. Als sie zuletzt rausging, hielten die Taliban sie an. Nahe den Bushaltestellen stehen sie oft, kontrollieren Frauen und Mädchen. „Warum hast du dein Gesicht nicht verdeckt? Warum ist kein männlicher Verwandter bei dir?“, fragten sie Parisa. „Ich habe Angst vor diesen Männern mit ihren Gewehren auf der Schulter. Sie kamen aus den Bergen, und sie wissen nicht, wie man mit Frauen spricht. Eine meiner Freundinnen wurde mit einem Talib verheiratet. Ich will nicht mehr raus.“

„Im Haus kann ich nicht atmen. Ich bin ein Vogel im Käfig.“

„Im Haus kann ich nicht atmen. Immerzu bin ich von Mauern umgeben. In diesem Haus bin ich aufgewachsen. Es ist ein einfaches Haus, aber es bedeutet uns viel. Früher sah es schön für mich aus, nun sehe ich einen Käfig darin. Ich bin ein Vogel im Käfig.“ Parisa spricht Persisch, die Sprache der Dichter.

Und wo sollte Parisa draußen auch hin? Manchmal eilt sie zum Markt oder in die Bibliothek, besucht in Begleitung eine Freundin. Aber in den Restaurants gibt es jetzt Vorhänge, die Frauen und Männer voneinander trennen. Geschlossen sind die Cafés, verschwunden die Frauen von den öffentlichen Plätzen.

„Kennen Sie Takht-e Safar? Das ist ein berühmter Park hier, Leute aus dem ganzen Land sind gekommen, um ihn sich anzusehen. Ich bin mit meinen Freundinnen hingegangen, manchmal haben wir unser Frühstück mitgebracht. Wir saßen auf den Felsen und haben die Musik aufgedreht; Fotos geschossen und die Bilder auf Social Media gepostet. Es gibt dort Pinien, alt und sehr hoch, mit riesigen Kronen.“

Seit November 2022 dürfen Frauen in Afghanistan keine Parks mehr besuchen. Wenn Parisa die Anlage vermisst, setzt sie sich auf das Dach ihres Elternhauses und blickt aus der Ferne auf die grüne Fläche.

Ihre wahren Gedanken schreibt Parisa in ein geheimes Notizbuch

Frei, sagt Parisa, fühlt sie sich nur noch in ihrem Zimmer. Dann schließt sie die Tür ab, setzt sich auf die Bettdecke mit dem Blumenmuster und beginnt zu schreiben. Die weißen Wände des Raums spenden ein wenig Licht, manchmal schreibt Parisa selbst nachts. Parisa schreibt darüber, was Herat verloren hat und wie sie Herat verlor. Seit dem 12. August 2021 führt sie das Notizbuch.

„Das Notizbuch ist ein Geheimnis zwischen Ihnen und mir. Ich verstecke es im Haus. Vor einigen Monaten kamen die Taliban, sie durchsuchten die Häuser nach IS-Kämpfern, nach ehemaligen Regierungsbeamten. Ich habe das Buch unter meinen Kleidern versteckt, ich hatte solche Angst. Meiner Familie kann ich nichts darüber sagen, sie würden sich Sorgen um mich machen. Auch ihr Schmerz ist groß. Ich will ihn nicht vergrößern. Warum ich meinen Freunden nichts sage? Es ist eine schwierige Zeit, jemandem zu vertrauen. Viele wurden getäuscht; und Geheimnisse landeten bei den Taliban.“

In das Notizbuch schreibt Parisa Ahmadi über ihre Erlebnisse, die mit den Taliban zu tun haben. Nichts über ihre Familie, nichts über ihr Leben vor dem August 2021. „Mein Schmerz ist so groß, dass er irgendwohin muss. Ich kann über diese Dinge nicht sprechen, ich bin wie eine Tote. Mit jedem Wort, das ich schreibe, weine ich. Aber wenn ich die Worte aufschreibe, gibt mir der Stift auch ein wenig Frieden. Keinen vollkommenen Frieden, aber ein wenig. Und deshalb werde ich weiterschreiben.“

*Name geändert