Die Mercedes-Kollegen George Russell (li.) und Lewis Hamilton werfen bei einer PR-Veranstaltung den Fans Kappen zu. Foto: IMAGO//Zak Mauger

Formel-1-Pilot George Russell liegt vor dem Großen Preis von Spanien an diesem Sonntag in der WM-Wertung vor Mercedes-Teamkollege Lewis Hamilton – ist er der bessere Fahrer?

Die Tabelle lügt nicht. Das betonen Fußballexperten gerne, wenn genügend Spieltage absolviert sind. Übertragen auf die Formel 1 sollten im WM-Stand nach fünf von 22 Rennen einige Körner Wahrheit stecken. Red Bull und Ferrari haben das beste Paket aus Auto und Fahrer, das ist unbestritten, also führt vor dem Großen Preis von Spanien an diesem Sonntag (15 Uhr) Ferrari-Mann Charles Leclerc die Tabelle vor den Bullen Max Verstappen und Sergio Perez an, auf Platz fünf findet sich in Carlos Sainz der zweite Scuderia-Pilot – dazwischen hat sich George Russell gemogelt.

Der Mercedes-Mann hat die Phalanx der Dominatoren aufgebrochen, und, was fast noch erstaunlicher ist: Der 24-Jährige liegt mit 59 Punkten 23 Zähler vor Teamkollege Lewis Hamilton, der neben dem Adelstitel „Sir“ die sportlich nennenswerte Auszeichnung „Rekordweltmeister“ führt. Mika Häkkinen, Weltmeister 1998 und 1999, ist sich sicher, dass „Hamilton von der Situation genervt ist. Es ist hart, von George besiegt zu werden.“ Für den Superstar sei die Saison sowieso schon ein „Desaster“, meint der 53 Jahre alte Finne: „Und mit George vor ihm ist alles noch schlimmer.“ Ein faules Überraschungsei – drei Probleme auf einmal. Schmuckverbot im Cockpit, der Mercedes kein Weltmeister-Auto und hinter dem Teamkollegen in der WM-Wertung. Spiel, Spaß und Spannung haben die anderen.

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Anfang April hat der 37 Jahre alte Brite via Instagram zugegeben, manchmal mental auf dem Zahnfleisch daherzukommen. „Ich sehe, dass Hamilton nach Ausreden sucht“, lästerte der niederländische TV-Experte Tim Coronel in einem Interview, „weil er von Russell immer wieder eins auf die Nase bekommt.“ In fünf Rennen lag Russell viermal vor Hamilton, im Qualifying führt der Routinier 3:2, doch der Neuling hat das Sprint-Qualifying und den Sprint in Imola für sich entschieden. Erstmals seit 2016, als er gegen Nico Rosberg das WM-Duell verlor, spürt Hamilton die Präsenz eines ebenbürtigen Gegners im eigenen Haus. „Verliert er gegen Russell, wäre das ein Makel“, stellt Ex-Pilot Marc Surer fest, der überzeugt ist, dass Teamchef Toto Wolff dem Star keinen Nummer-eins-Pass ausstellen wird: „Teamorder passiert erst, wenn Mercedes die Chance hat, Weltmeister zu werden.“ Diese Voraussetzung tritt 2022 aber vielleicht gar nicht mehr ein.

„Ich bin mir sicher, dass Lewis bald stark zurückkommt. Daran gibt’s gar keinen Zweifel, er wird mich pushen“, sagte der Youngster nach dem Grand Prix von Imola: „Wie er das Team antreibt, ist sehr inspirierend.“ Das klingt ein wenig so, als würde sich der Mercedes-Lehrling schützend vor den Meister stellen, der in einer Schaffenskrise steckt. Aber stören dürfte ihn die unerwartete Hierarchie kaum, schließlich ist jeder Rennfahrer zuerst ein Egoist und dann ein Teamplayer. Mit dem aktuellen Kräfteverhältnis steigen die Chancen für Russell beträchtlich, nach der Abdankung des Rekordchampions als legitimer Erbe zu gelten. Der Silberpfeil hoppelt („Bouncing“), die Aerodynamik funktioniert nie wie am Simulator errechnet. Damit ist das Auto nicht nur zu langsam, das Gehoppel belastet zudem die Fahrer. „Bei der Schaukelei tut dir alles weh. Hüften, Rücken, Brust. Es war das Maximum von dem, was noch erträglich ist“, stöhnte Russell in Imola.

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Es wird eine interessante Erklärung gehandelt, warum der Novize mit 65 Grand-Prix-Starts im Vergleich zum Altmeister (293) besser mit dem Mercedes umgehen kann. „Hamilton ist bislang perfekte Autos gefahren. Er ist verwöhnt“, behauptet Surer. Russell dagegen musste bis Ende 2021 „den Williams um den Kurs prügeln. Er ist gewohnt, mit einem schlechten Auto schnell zu fahren.“ Auch Ex-Weltmeister Jacques Villeneuve bejaht diese Theorie: „George hatte ein kniffliges Auto bei Williams. Lewis musste früher kaum ans Limit gehen, weil Mercedes so viel schneller war“, schrieb der Kanadier in einer Kolumne.

„Wir haben ein schnelles Rennauto, uns fehlt nur der Schlüssel, um die Leistung rauszuholen“, sagte George Russell kürzlich. Wäre spannend, wenn sie ihn bald fänden. Nicht, weil man Mercedes-Fan wäre, sondern weil man erkennen möchte, ob sich in der Formel 1 eine Wachablösung abzeichnet.