Mehr als 100 Tonnen tote Fische sind bereits in der Oder geborgen worden. Foto: dpa/Patrick Pleul

Die Fischkadaver sind in Schwedt an der Oder fast schon wieder weg. Aber die Folgen der Katastrophe werden die Region noch lange beschäftigen.

Losgegangen ist es am vergangenen Donnerstag. Gegen 7.30 Uhr, so erzählt es Dirk Schmidt, ist er an die Oder gefahren. Schon zwei Tage vorher hatte der Vorsitzende des Schwedter Anglervereins einen Anruf bekommen: „Da ist etwas passiert“, hieß es, er solle mal nachsehen. Im Laufe des Morgens trieben sie dann an, minütlich wurden es mehr. „Es war grauenvoll“, sagt Schmidt und schaut ungläubig weg. Auch Tage danach beschäftigt ihn noch dieser Morgen, an dem das Fischsterben in der Oder die Stadt Schwedt in Brandenburg erreichte.

Der 64-jährige Schmidt kennt an der Oder in Schwedt jeden Winkel. Er ist ein großgewachsener Mann mit grauen Haaren und einem starken uckermärkischen Dialekt. Er erzählt, wie sie in den Gewässern rund um die Oder als Kinder schon Eishockey gespielt haben, wie er hier als Kleinkind mit seinem Großvater zum ersten Mal angeln gegangen ist. Er fühlt sich wohl, hier in der Natur und der Ruhe, engagiert sich ehrenamtlich. Seit über 20 Jahren ist Schmidt Vorsitzender des Anglervereins. Außerdem ist er Kurator im Nationalpark „Unteres Odertal“. Als er in seinem weißen Nissan an die Oder fährt, zeigt er auf die Stelle, wo er einmal seinen größten Wels gefangen hat.

Fische wie „bedröppelt“

Dort, an der Grenzbrücke, die Schwedt über die Oder mit Polen verbindet, treibt auch knapp eine Woche nach den ersten Fischkadavern wieder ein Wels – leblos. Das Wetter ist schön, nur ein leichter Geruch von Verwesung hängt in der Luft. Ein paar Fische hängen in einer behelfsmäßigen Sperre, die Schmidt und einige Bekannte aus Schwimmbadbegrenzungen gebaut haben. Wenn es nur wenige Kadaver sind, halte die Sperre sie auf, sagt Schmidt, aber wenn mehr kommen, treiben sie unten durch. Der Wels verwest bereits, er ist aufgeplatzt. „Das zeigt, dass der nicht hier gestorben ist“, sagt Schmidt.

In den ersten beiden Nächten der Katastrophe habe er kaum geschlafen. „Diese Bilder kriegst du nicht aus dem Kopf. Du wirst fassungslos, tieftraurig. Man merkt, dass man gegen die Natur ein Niemand ist.“ Was ihn besonders beschäftigt: Fische, die noch lebten, seien nicht weggeschwommen, als sein Schatten auf sie fiel. Eigentlich hätten sie verängstigt wegschwimmen sollen, er könne ja schließlich ein Feind sein. Aber diese Fische, die seien wie „bedröppelt“ gewesen und einfach weitergeschwommen. Ein Zeichen, dass das Wasser noch belastet sei.

Belohnung auf die Täter ausgesetzt

Was in der Oder passiert ist, lässt sich vermutlich nur als gewaltige Umweltkatastrophe beschreiben. Seit vergangener Woche treiben zahlreiche leblose Fische das Gewässer hinab. Inzwischen sollen es bereits mehr als 100 Tonnen sein. Der Grund für das Fischsterben ist unklar, mehrere Labore untersuchten das Wasser – wussten aber lange nicht, wonach genau sie suchen sollen. Inzwischen gehen Experten davon aus, dass es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren handelt, auch der niedrige Wasserspiegel und die Temperaturen trugen dazu bei.

Die neueste Theorie: Wissenschaftler haben eine giftige Algenart im Blick. Mittlerweile sei die Mikroalge mit dem Namen Prymnesium parvum identifiziert worden, sagte der Gewässerökologe Christian Wolter. „Die Art ist bekannt dafür, dass es gelegentlich zu Fischsterben kommt.“ Gewässerproben haben ergeben, dass sich im Oderwasser „immens hohe Dichten“ dieser Algenart befinden, die einen Giftstoff absondern, der für Fische extrem giftig sei, hieß es auch am Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin.

Um die Schäden wenigstens einzudämmen, will die Politik nun eine deutsch-polnische Taskforce bilden. Ziel ist laut Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) der „Schutz der Bevölkerung, gemeinsame Schadensbegrenzung und das Identifizieren des Verursachers“. Doch das kann den Unmut über die späten Informationen aus Polen kaum verstecken. Dort sollen schon Ende Juli tote Fische aufgetaucht sein, in Schwedt erfuhr die Stadt erst vergangene Woche davon.

Eine Stadt im Krisenmodus

Entsprechend wütend ist die Schwedter Bürgermeisterin Annekathrin Hoppe (SPD) auf die polnische Informationspolitik. Sie sitzt in ihrem Büro im dritten Stock des Schwedter Rathauses. Wenn sie sich an die Anfangstage der Katastrophe erinnert, ist sie sichtlich betroffen. „Als ich das erste Mal am Ufer gestanden habe, konnte ich fünf Minuten lang nicht sprechen“, sagt Hoppe. Sie leitet eine Stadt, die ohnehin im Krisenmodus ist: Seit die EU das Embargo für russisches Öl beschlossen hat, steht die Zukunft der Raffinerie im Ort in Frage – ein großer Teil der Einwohner wäre betroffen. Jetzt kommt auch noch die vergiftete Oder hinzu. Hoppe beschäftigen vor allem die Folgen der Katastrophe. „Ich befürchte, dass dieses Ökosystem über Jahre hinaus gestört ist. Wir müssen um den Nationalpark insgesamt bangen.“ Dazu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen für Berufsfischer oder Anbieter von Tourismusveranstaltungen, die jetzt alle ausfallen.

Die Schuldzuweisungen zwischen Polen und Deutschland will Dirk Schmidt nicht hören: „Wen interessiert das jetzt?“ Er sitzt im hellgrünen Vereinsheim des Anglervereins, das sie selbst vor einigen Jahren aufwendig renoviert haben. Auf seinem Handy hat er lauter Bilder toter Fische, ihm schicken immer wieder Bekannte etwas. „Die Polen hier an der Grenze haben das auch erst mitgekriegt, als es da war. Und die haben schneller reagiert.“ Später am Fluss wird er zeigen, was er meint: Auf der anderen Seite der blauen Grenzbrücke stehen orangene Zelte, eine Ölsperre schwimmt im Wasser. Vor einigen Tagen seien Lkw vorgefahren und hätten die vergifteten Fischkadaver mitgenommen.

Ein finanzieller Abgrund

Auf deutscher Seite unter der Brücke trifft Schmidt auch eine Bekannte: Frauke Bennett. Sie bietet Kanutouren durch den Nationalpark Unteres Odertal an. Wobei alle Beteiligten schnell in den Konjunktiv fallen, denn so bald wird das nichts mehr mit den Touren. Jetzt steht sie vor einem finanziellen Abgrund. Aber Bennett will nicht untätig bleiben: Die Menschen an der Oder müssten sich zusammentun, um sie zu schützen: „Wenn der Fluss seine Ökosystemleistung nicht mehr erfüllen kann, gehen wir mit ihm kaputt.“ Die Oder befeuchte die Region und kühle sie damit. Deswegen müsse der wirtschaftliche Ausbau gestoppt werden, die Oder sei eine Lebensader und keine Straße. Jetzt ist sie aber ohnehin auf unabsehbare Zeit toxisches Gebiet. Ob Bennett glaubt, nächstes Jahr wieder Kanutouren anbieten zu können? „Es geht für mich nicht ums Glauben, ich hoffe es. Ich will den Menschen diese Natur hier zeigen.“

Dass diese noch lange brauchen wird, um sich zu erholen, denkt auch Lena Mutschler. Sie ist beim Bund für Umwelt- und Naturschutz Projektkoordinatorin für Oderschutz und Beobachterin in der Internationalen Kommission zum Schutz der Oder. „Wir werden das Problem nicht so schnell los, wenn wir weiter auf Kohlekraft setzen“, sagt sie. Der Grund: Wegen der Kohlekraftwerke gelange Quecksilber in die Flüsse. Auch wenn Quecksilber wohl nicht die Ursache für die Katastrophe in der Oder war, sei das ein Problem. „Die Gewässer sind schon seit langer Zeit zahlreichen Belastungen ausgesetzt und in einem schlechten Zustand.“ In der Oder kämen polnische Baggerarbeiten hinzu, die schädliche Sedimente aufwirbelten. „Wir haben es mit einer langjährigen Katas-trophe zu tun“, sagt Mutschler.

Wann die Oder wieder gesund wird? Niemand will sich wirklich festlegen. Wenn es nach Schmidt geht, sollte das Wasser jetzt in Ruhe gelassen werden. Sogar ein Angelverbot von einem Jahr kann sich der Vorsitzende des Anglervereins vorstellen.