Was tun, wenn Kinder von ihren Gefühlen gepackt und nicht mehr losgelassen werden? Foto: Adobe Stock/Chomplearn_2001

Schreien, weinen, schlagen – Wutausbruch ohne Ende. Was tun, wenn Kleinkinder von ihren Gefühlen gepackt und nicht mehr losgelassen werden? Wir haben eine Expertin befragt.

Ein schreiendes Kleinkind im Supermarktgang. Nervenzusammenbruch. Der Junge ist unzufrieden, wirft sich auf den Boden, weint, schreit, windet sich und schlägt wild um sich. Beruhigen lässt er sich nicht. Der Vater: peinlich berührt. In den 90er Jahren nahm dies eine skandinavische Kondom-Marke zum Anlass, ihre Produkte anzupreisen. Eltern, denen das im echten Leben passiert, finden das nur mäßig lustig.

Auch weil das früher oder später allen Eltern mal widerfahren wird und sie nichts sehnlicher wollen, als ihr Kind aus dieser Situation herauszuholen. Auf dem Spielplatz, auf dem Weg nach Hause oder zu Hause. Aber wie deeskaliert man richtig? Die Familienberaterin Songül Demirbilek erklärt Eltern die Sicht der Kinder und hilft Familien, ihren Kindern zu helfen. Sie kennt sich bestens mit diesen Situationen aus.

Was geht in solchen Momenten in einem Kind vor?

Richtige Wut tragen Kinder schon von Anfang an in sich, das kann sich in Form eines Wutanfalls, aber auch in Form eines Rückzugs äußern. Sie äußert sich im Sinne einer Frustration und ist oft Zeichen einer Überforderung. Sind die Kinder noch kleiner, ist das meist eine Überforderung ihrer körperlichen, haptischen oder emotionalen Fähigkeiten. Das ist wie ein Blitzlicht im Gehirn, eine maximale Entladung. In diesem Fall ist es sinnvoll, Kinder nicht zusätzlich zu stimulieren.

Und das bedeutet?

Die intuitiven Reaktionen der Eltern sind meist entweder das ignorierende, beschämte Weggucken, hoffen, dass es bald aufhört oder beispielsweise beruhigend auf das Kind einzureden, es anzufassen oder pädagogisch und intellektuell nach dem Warum zu fragen: „Was ist denn los? Was ist denn passiert? Wir hatten so einen schönen Tag und jetzt machst du so was. Stell dich doch nicht so an.“ Und es gibt eben das Beherzte, das Kind einfach zu packen und weiterzuziehen. Doch das alles führt nicht zu dem gewünschten Ergebnis: ein Kind, das wieder „normal funktioniert“.

Gut zureden bringt also gar nichts?

Kinder sind in solchen Momenten nicht ansprechbar oder empfänglich für Worte, Rationales oder Planerisches. „Komm, wir gehen jetzt nach Hause und essen dann was Leckeres“ können sie da nicht verarbeiten, weil sie nicht auf der logischen, sondern auf der emotionalen Welle sind – man erreicht das Kind so nicht. Dieses Stresslevel wird oft durch eine körperliche Entladung abgebaut – deshalb werfen sie sich ja auf den Boden, heulen, schreien, strampeln oder schlagen wild um sich. Erst wenn sich der Stress abgebaut hat, sind sie wieder für Rationales empfänglich. Vorher einzugreifen, verlängert den Prozess nur.

Wie reagiere ich richtig?

Sinnvoll wäre, sich dazuzusetzen und einfach nur da zu sein, aber keine zusätzliche Stimulation oder Anreize zu bieten. Einfach aussitzen, Blickkontakt halten, körperliche Nähe anbieten und Gefährdung für das Kind und andere verhindern.

Deuten sich solche Zusammenbrüche bereits vorher an?

Diese Trotzgewitter rühren meist von einer Überforderung aus dem Alltag. Manchmal merkt man bereits im Vorfeld, dass sich etwas zusammenbraut. Zum Beispiel auf dem Spielplatz: Hat das Kind an diesem Tag schon viel zurückstecken, Kompromisse eingehen müssen, Spielzeug teilen? War es von Situationen überfordert oder ist es von anderen Kindern zurückgewiesen worden? Wenn Kinder in diesen Momenten nicht explodieren, dann gehen sie einen Kompromiss ein. Kinder leben im Hier und Jetzt – für sie, je nach Persönlichkeit und Erfahrung, kann eine Abweisung emotional sehr verletzend sein. Da hilft’s nicht, dass wir Erwachsenen wissen, dass da noch ganz viele Freunde kommen und gehen werden. Und irgendwann ist das Maß eben voll. Wenn sich das ankündigt, kann auch Körperkontakt helfen, in den Arm nehmen, streicheln – dafür sorgen, dass Glückshormone ausgeschüttet werden. Ein vorsorglicher Gegenpol wäre auch: selbst Liebe zu tanken.

Was heißt das?

Wenn mir auffällt, dass mein Kind an dem Tag sehr viel Zurückweisung erleben musste, kann ich es mit Liebe und Anerkennung stärken. Kinder helfen immer gerne, wenn Sie Anerkennung dafür bekommen. Doch in sich aufbauenden Stresssituationen können sie manchmal Angebote von Eltern zum Deeskalieren nicht annehmen, daher sage ich nicht: „Komm, ich tu’ dir was Gutes“, sondern umgekehrt: Ich frage das Kind, ob es mir etwas Gutes tun kann. Kurz kuscheln beispielsweise. Kinder nehmen diese Auszeit dann auch als beruhigend wahr. Aber wenn sich das Gewitter bereits entlädt, dann hilft nur abwarten. Wenn die Welle wieder abflacht: einfach die Arme aufmachen. Wenn die Kinder wieder bereit für körperliche Nähe sind, können sie kommen. Das Angebot ist wichtig.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Elternratgeber – „Hilfe, unsere Tochter isst nur Nudeln ohne alles!“

Wie viel Anteil hat das Temperament eines Kindes?

Ein temperamentvolles Kind trifft viel mehr Entscheidungen und damit auch viel mehr Entscheidungen, von denen es vielleicht überfordert ist. Ein weniger temperamentvolles Kind geht aber vielleicht mehr Kompromisse ein, als ihm lieb ist. Fakt ist: Um das dritte Lebensjahr ist die Trotzphase eine natürliche Entwicklung, die sich nicht vermeiden lässt.

Wie lernen Kinder, sich rational zu beruhigen?

Kinder sind Kinder, keine kleinen Erwachsenen. Mit ungefähr sechs Jahren entwickeln Kinder eine sogenannte Reflexionskompetenz, ebenso bildet sich dann auch Empathie weiter heraus. Soziale Kompetenzen von Kindern werden vorher durch Gruppendynamik und durch Nachspielen erlernt – gespiegelt. Wenn Kinder Ihnen etwas vom Keks abgeben, machen sie das nicht primär, weil sie Ihnen was Gutes tun wollen, sondern weil sie gemerkt haben, dass Sie sich ganz toll darüber freuen.

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Zur Person

Unsere Expertin für Erziehungsfragen: Songül Demirbilek Foto: Privat

Songül Demirbilek
Die 43-jährige Stuttgarterin ist Familienkinderkrankenschwester und Mutter von zwei Kindern. Bei ihrer Arbeit auf der neonatologischen Intensivstation hat sie viele Familien in Ausnahmesituationen kennengelernt. Außerdem unterstützt sie seit mehr als zehn Jahren in der Elternberatung junge Familien in analogen und digitalen Formaten bei individuellen Problemen. Sie ist Leiterin der Elternschule des Klinikums Stuttgart.