.... und riegeln dort mit Schießbefehl ... Foto: Studiocanal GmbH / Willem Vrey/Studiocanal GmbH

Kann ein Kinofilm etwas bewirken? Mit „Der vermessene Mensch“ über deutsche Kolonialverbrechen in Afrika will der Regisseur Lars Kraume aufrütteln.

Völlig geschwächt, offensichtlich dem Verdursten nahe, nähert sich in der Omaheke-Wüste im heutigen Namibia eine Gruppe Frauen und Kinder einer Wasserstelle. Soldaten der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika versperren den Zugang. „Aus Menschlichkeit“ schlitzen nicht Bajonette die Körper der Wehrlosen auf – die versprengte Herero-Gruppe stirbt im Kugelhagel.

Kühler Erzählton

Es sind Szenen wie diese, die Lars Kraumes Film „Der vermessene Mensch“ unmittelbar wirken lassen. Umso mehr, als Kraume, 2015 mit seinem Drama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ bekannt geworden, einen kühlen Ton hält – und das Publikum gerade damit in einem ungläubigen Entsetzen fesselt. Und es sind Szenen wie diese, die alle Härte erklärt, die Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama spüren lässt, als sie „Der vermessene Mensch“ gemeinsam mit Lars Kraume in Stuttgart im Kino Atelier am Bollwerk präsentiert.

Als in der Gesprächsrunde nach dem Film aus dem Publikum die Beteiligung der Herero und Nama heute an den seit 2021 geführten Verhandlungen über ein Versöhnungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Namibia eingefordert wird, hebt Girley Charlene Jazama den rechten Arm, ballt die Faust. Und fast tonlos fordert Naita Hishoono, Vertreterin des Namibia Institute for Democracy, „endlich Reparationszahlungen“.

Schwierige Situation für Ministerin Olschowski

Eine schwierige Situation für Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Petra Olschowski. In ihrer Verantwortung auch für die Kultur im Land steht die frühere Staatssekretärin seit 2016 mit in der ersten Linie für die Rückgabe der geraubten Kulturgüter aus ehemaligen deutschen Kolonialgebieten. In ihrer Verantwortung für Wissenschaft und Forschung sieht sie in und mit Kraumes „Der vermessene Mensch“, wie Wissenschaft zum Komplizen des Massenmordens im Namen des deutschen Kaisers wird – und spürt in Girley Charlene Jazamas wenigen und Naita Hishoonos entschiedenen Worten, wie tief die Abgründe in der Gegenwart sind.

Vorsichtige Annäherung: Forscher Hoffmann und Herero-Übersetzerin Kezia Kunouje Kambazembi Foto: studio canal+

Was als Grußwort Olschowskis gedacht war, wird zu einem Einblick in die Untiefen der Politik. Die Ministerin verweist auf die Erfolge bei der eingeleiteten Rückgabe von Kulturgegenständen – und muss andererseits zustimmen: Ja, alle Fragen finanziellen Ausgleichs sind zwischen Staatsregierungen zu klären. Dabei geht es keineswegs nur um eine Wiedergutmachung des Unrechtes der deutschen Kolonialzeit. „Die Museen in Deutschland“, sagt Naita Hishoono, „haben über Jahrzehnte viel Geld mit Gegenständen verdient, die nicht ihnen gehören.“ Nicht anders als die anthropologische Wissenschaft ist auch die kulturgeschichtliche Forschung unmittelbar Teil nicht nur der Ausbeutung der deutschen Kolonialgebiete, sondern muss im Rückblick immer klarer erkennen, auch Teil der Mordmaschine und Vernichtungsfeldzüge wie gegen die Herero und Nama geworden zu sein.

Forscher Hoffmann ist der Suchende

Eben davon erzählt denn auch Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“. Im Mittelpunkt steht Alexander Hoffmann. Ende des 19. Jahrhunderts ist er in Berlin Doktorand der Ethnologie – ein junger Wissenschaftler, der im langen Schatten seines erfolgreichen Forschervaters steht und der inmitten einer einseitig rassentheoretisch orientierten Darwin-Interpretation nach eigenen Ansätzen sucht. Kann es sein, dass uns Menschen weltweit nur die kulturelle Prägung unterscheidet? Leonard Scheicher spielt Hoffmann als Suchenden – als Figur voller Ängste und unerfüllter Sehnsüchte, als Mensch, dem im Leben nur eine Türe zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit offensteht: einmal die Nachfolge von Professor von Waldstätten anzutreten. Burgtheater-Ehrenmitglied Peter Simonischek spielt von Waldstätten als Souverän des Opportunismus, der erkennt, dass die Menschenforschung in der politisch gewollten Richtung die junge Wissenschaft Ethnologie in der Gunst des Kaiserreiches ganz nach oben treibt.

Lohn des Tötens: Schädel zur Forschung in Deutschland Foto: studio canaö+

Lässt sich Überlegenheit messen? Anlässlich der Völkerschau in Berlin 1896 verspricht von Waldstätten seinen vielen Studenten und wenigen Studentinnen „jeweils ein eigenes Exemplar“ für Schädelmessungen, deren Ergebnis bereits vorher feststeht.

Ziel der Deutschen: Identitäten zerstören

Alexander Hoffmann trifft auf Kezia Kunouje Kambazembi, Übersetzerin einer Herero-Gruppe, die über das Versprechen nach Berlin gekommen ist, mit Kaiser Wilhelm II. über die Zustände in Deutsch-Südwest sprechen zu können. Girley Charlene Jazama zeigt Kunouje, wie alle die junge Frau nennen, als eingangs stolze, dann verwirrte und zuletzt völlig gebrochene Person. Sinnbildlich spürt Kaume mit dieser Figur dem Kern des Massenmords an den Herero und Nama nach – der Zerstörung jeglicher Identität. Eine Zerstörung, die für das koloniale deutsche Ostafrika erst noch aufzuarbeiten ist.

Und Hoffmann? Mit seinen Augen folgt das Kinopublikum den deutschen Schutztruppen, mit seinen Augen erleben wir Generalleutnant Lothar von Trotha und seinen „Vernichtungsbefehl“ und die ersten von Deutschen unter diesem Begriff errichteten Konzentrationslager.

Mit den Augen des Mittäters

Diese Szenen vor Augen, leistet sich Deutschland eine eigentümliche Debatte: Reichen Lars Kraumes Bilder, das Grauen zu erfassen, wird gefragt – und: Ist die Täterperspektive überhaupt legitim? Ja, „Der vermessene Mensch“ will viel. Aber gerade in der bewussten Beschränkung auf den Blick des zum Mittäter werdenden Wissenschaftlers Alexander Hoffmann liegt die Stärke dieses Films. Das Grauen ist nicht leicht konsumier- und ablegbar. Es zeigt sich als Abgrund in die Gegenwart. In den Worten von Girley Charlene Jazama: „Wir sind noch immer nicht geheilt, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Vorfahren auf würdige Weise zu begraben.“

Der vermessene Mensch: Deutschland 2023. Regie: Lars Kraume. Mit Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek. 116 Minuten. Ab 12 Jahren. Ab 23. März im Kino.