Tom Sturridge spielt den Herrn der Träume Foto: Netflix/PR

Neil Gaimans „Sandman“ ist eine der besten Comicserien, die je in den USA erschienen sind. Netflix hat sich an die Verfilmung gewagt. Jetzt gibt es erste Eindrücke.

Nie, aber auch wirklich niemals könne es von diesem komplexen Comic eine Verfilmung geben, waren die Millionen Fans von Neil Gaimans epochaler Serie „Sandman“ lange überzeugt. Ergebnis: Es gibt eine Verfilmung, als Netflixserie. Das Startdatum steht fest, am 5. August geht’s los. Am Pfingstmontag ging der erste Trailer online – und nun werden viele Leser der Vorlage ganz genau hinschauen, ob „Sandman“ eventuell mit viel Effektbrimborium die Magie ausgetrieben wurde.

Tatsächlich war „Sandman“ ein Wunder der US-Comicgeschichte, wie es heute wohl nicht mehr denkbar wäre. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre wurde den Entscheidern beim Verlag DC, einer der beiden großen Superheldenfabriken, klar, dass langfristig die Leserzahlen bröckeln würden. Ein immer größerer Teil jener Kids, die bislang stets Generation um Generation zu Superheldencomics gegriffen hatten, würde künftig im Lager der Nichtleser zu finden sein. Und ein interessanter Prozentsatz der lesenden Kids hatte bereits jetzt mit markigen Muskelprotzen in knallbuntem Spandex nichts mehr am Hut.

Experimente statt Superhelden-Routine

Also bekam die Redakteurin Karen Berger grünes Licht für Experimente: Unter ihrer wohlwollenden Aufsicht durften Comicmacher neue Ideen ausprobieren und ältere, vor allem aber auch kleinere Zielgruppen anvisieren, zum Beispiel die Goth-Kids und sonstigen Außenseiter an der Highschool. Frischen Geist fand Berger zunächst vor allem bei britischen Erzählern, und so bekam der Ex-Musikjournalist und aufstrebende, aber noch keinesfalls berühmte Fantasy-Autor Neil Gaiman eine Chance.

Der Brite durfte sich aus den Archiven eine uralte, längst vergessene DC-Figur herauskramen und die dann auch noch ab 1989 in etwas komplett anderes transformieren. „Sandman“ erzählte vom Herrn der Träume, von Göttern und Ungeheuern, von einer Welt, in der alle menschlichen Einfälle, Schöpfungen und Hirngespinste im Reich von Sandman alias Morpheus konkrete Gestalt gewannen. Oder, so klar war das im Einzelfall nicht, die Wesen aus Morpheus’ Reich schlichen sich in die Menschenwelt und nisteten sich dort in Köpfen oder gleich mal in realen Hotelzimmern ein.

New Wave und Abenteuer

„Sandman“ überraschte 75 Hefte lang bis in den März 1996 mit einer stets authentisch wirkenden Mischung aus New-Wave-Sensibilität, klassischer Abenteuerfabulierlust, Punkrotzigkeit, Bildungseifer, seismografischem Gespür für aktuelle Ängste und gelegentlich auch ein bisschen Artsy-Fartsy-Versponnenheit. Die Sammelbände der Serie trugen sehr dazu bei, Graphic Novels auch in bislang eher zurückhaltenden Buchhandlungen einen festen Platz in den Regalen zu verschaffen.

Gaiman arbeitete mit wechselnden Zeichnern zusammen, der Stil schwankte weniger als dass er oszillierte. Was natürlich prima zum Traumthema passte. Griechische Sagen und die Bibel, moderne Serienkillerfolklore und Shakespeare speisten Figuren und Ideen ein, und allen Lesenden war klar, dass sie wohl gerade nicht alle Anspielungen mitbekamen. Das frustriert aber bis heute nicht, es macht Spaß. Wer sich auf „Sandman“ schwimmt in einem großen Gewässer. Man ist nie ganz sicher, was sich da alles unter der Oberfläche verbirgt und gleich an den eigenen Zehen nibbeln wird.

Gaiman wird obsessiv

Die Netflix-Serie, in der Tom Sturridge den Herrn der Träume spielt, muss also nicht nur eine Handlung und ein paar Charaktere vernünftig präsentieren, um alte und neue Fans der Vorlage nicht zu düpieren. Es geht um eine magische Atmosphäre, um vielfache Verästelungen, um ein knisterndes Gefühl der Möglichkeiten. Zwar wird auch die neue „Herr der Ringe“-Serie bei Amazon von Tolkien-Lesern mit Spannung erwartet. Aber was Mittelerde angeht, hat Peter Jackson mit seinen Kinofilmen ja bereits gezeigt, wie man es zwar nicht allen Hardcore-Fans recht machen, aber doch hinreichend Respekt vor den Büchern zeigen kann. Bei „Sandman“ müssen die Serienmacher auf jeden Fall ihren eigenen Weg finden.

Die gute Nachricht: Neil Gaiman selbst ist Teil des Produzententeams, und Gaiman war bisher die Integrität seiner Werke stets wichtiger als lukrative Ausschlachtung um jeden Preis. Und Gaiman war tatsächlich nicht nur nominell involviert. In Interviews hat er Einblicke in den Arbeitsprozess gegeben, unter anderem diesen: „Die Dialoge von Morpheus sind enorm punktgenau. An dem Punkt war ich wahrscheinlich am obsessivsten überhaupt. Jemand lieferte fabelhafte Drehbuchseiten, der Showrunner Allan Heinberg legte eine fabelhafte Überarbeitung hin, ich schaute in jedem Stadium drauf, aber trotzdem gab es am Ende immer diesen Punkt, an dem ich an den Morpheus-Dialogen herumklempnerte: um sicherzustellen, dass die Begriffe passten, dass die Rhythmen stimmten.“. Na dann, wer schon „Sandman“-Fan ist,wird von jetzt an bis zum 5. August gewiss noch interessantere Träume haben.