Eine Frau mit unbeugsamem Willen: Charlotte Knobloch. Foto: Imago/Sven Simon

Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, feiert ihren 90. Geburtstag. Lange haderte sie damit, im Land der Holocaust-Mörder zu leben. Und heute?

Das große Besprechungszimmer der jüdischen Gemeinde bietet einen fantastischen Blick auf die Silhouette Münchens: Frauenkirche, der Turm des Rathauses am Marienplatz, der Alte Peter. Den Blick vom Dachgarten genoss auch Angela Merkel als Bundeskanzlerin – gemeinsam mit der Dame des Hauses.

Charlotte Knobloch lässt ihre beiden Begleiter vom Polizeischutz vor der Tür zurück. Sie geht sicher, nur ein wenig vornüber gebeugt. Gegen Ende des Gespräches wird sie aus dem hohen Fenster schauen, auf die Türme und die Synagoge direkt unten am Jakobsplatz, und sagen: „Das ist meine Heimat, ich liebe diese Stadt.“

Dieser Satz ist alles andere als selbstverständlich. An diesem Samstag, dem 29. Oktober, wird Charlotte Knobloch 90 Jahre alt. Als Opfer des Nationalsozialismus wurde sie wesentliche Kraft beim Wiederaufbau des Judentums in Deutschland. Zur Ruhe kommt sie nicht: als Zeitzeugin und Mahnerin gegen den Antisemitismus. Menschen von diesem Format gibt es nicht mehr viele in Deutschland.

Mit kaum zehn Jahren musste sie München verlassen

Wenn man sie fragt, wie sie täglich ihr – ehrenamtliches – Arbeitspensum bewältigt, dann lacht sie erst und sagt in ihrem schönen, weichen Münchnerisch: „Man hat mich gewählt und mir eine Verantwortung übertragen, die ich gerne erfülle. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich hierherkomme und sehe, wie das jüdische Leben sich entwickelt.“ Charlotte Knobloch ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG), so die offizielle Bezeichnung. Zwischen 2006 und 2010 war sie auch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und damit höchste Vertreterin des Judentums in der Republik.

Nicht ganz zehn Jahre alt war sie, als sie München verlassen musste, im Sommer 1942, damals hieß sie noch Charlotte Neuland. Ihr Vater Fritz Neuland, ein angesehener Rechtsanwalt, wusste, was auf das Mädchen zukommen würde: die Deportation durch die Nazis in das Konzentrationslager Theresienstadt und dann der Tod. Doch es fand sich eine „Retterin“, wie Knobloch die damals 35-jährige Kreszentia Hummel immer wieder bezeichnet.

Gerettet von einer einfachen Frau auf dem Land

Zenzi wurde sie von allen genannt, die streng katholische und ledige Frau lebte und arbeitete bei den Eltern auf dem Bauernhof in Mittelfranken in dem kleinen Markt Arberg. Zenzi hatte das Mädchen kennengelernt, als sie noch Hausbedienstete in Nürnberg war bei Charlotte Knoblochs Onkel, sie hatten sich gemocht, viel gescherzt und zusammen gespielt.

Als es um Charlottes Leben ging, nahm Kreszentia Hummel das Mädchen auf dem Hof auf – und gab es als ihr eigenes, uneheliches Kind aus, als Lotte Hummel. Einzig ihre Eltern und der Pfarrer waren eingeweiht, in dem Ort, in dem jeder jeden kannte. Dort galt Zenzi Hummel als moralisch verkommen – ausgerechnet die Frau mit der immensen Frömmigkeit kam mit einem unehelichen Kind von einem unbekannten Mann daher. Tatsächlich war diese Aufnahme des eigentlich jüdischen Kindes Charlotte aber für Hummel und deren Eltern lebensgefährlich. Wäre es aufgeflogen, hätten NS-Schergen sie hingerichtet.

Vater Fritz Neuland holte seine Tochter nach dem Sieg über Nazideutschland von Arberg nach München ab. Er hatte als Zwangsarbeiter überlebt, seine Ehefrau und Mutter von Charlotte war eine konvertierte Jüdin und hatte die Familie bereits 1936 verlassen. Charlotte Knobloch, so berichtet ihr Biograf, der Journalist Michael Schleicher, besuchte die Handelsschule und arbeitete in der wiedereröffneten Kanzlei des Vaters mit. Sie lernte Samuel Knobloch kennen, einen jungen Mann, der das KZ Buchenwald überlebt hatte, 1951 heirateten sie.

Charlotte Knobloch wollte gehen – und blieb doch

Wie erinnert sie sich an diese Zeit? Wollten die zurückgekehrten Juden voller Kraft ihre Gemeinden wiederaufbauen, wollten sie für ein besseres Leben in einem neuen, anderen Deutschland arbeiten? „Nein, viele Überlebende haben Deutschland nur als Durchgangsland angesehen“, erinnert sich Knobloch. „Sie wollten in andere Länder – die Vereinigten Staaten, Australien und auch Palästina beziehungsweise später Israel.“ So dachten auch sie und ihr Mann: „Ich wollte nicht in dem Land leben, das mir das angetan hat, was ich erlebt habe. Mein Gedanke war: weg von diesem Land.“

St. Louis im US-Staat Missouri war das konkrete Ziel des Paares, sie hatte noch eine Schneiderinnen-Lehre gemacht, um die Chancen für ein Arbeitsvisum zu verbessern. Aber: „Mein Mann und ich hatten dann Kinder bekommen, sie haben uns sozusagen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Letztlich wollten wir die Kinder nicht rausreißen.“ Lange jedoch seien die Koffer nicht ausgepackt gewesen.

Unermüdlich kämpft sie für ein jüdisches Zentrum in München

Samuel Knobloch arbeitete als Kaufmann, sie kümmerte sich um die drei Kinder, den Haushalt und engagierte sich mehr und mehr in der noch kleinen jüdischen Gemeinde Münchens in der Reichenbachstraße, dem Sitz der Synagoge. Dort ging es immer beengter zu. „Die Opfergruppe hat für sich gelebt, die Tätergruppe hat für sich gelebt“, beschreibt Knobloch diese Zeit, „es gab eine starke Trennung.“ Und: „Es wurde den Juden in Deutschland nicht verziehen, dass sie überlebt hatten.“

Sie kann sich noch erinnern an die Zerstörung der alten Hauptsynagoge in der Nähe des Stachus durch die Nazis. Im April 1938 war das, sieben Monate vor der sogenannten Pogromnacht in ganz Deutschland. Bis 1933 hatte die jüdische Gemeinde München 13 000 Mitglieder, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es 2700. Seitdem ist die Zahl auf 9500 gestiegen, Zuwachs kam vor allem durch die eingewanderten Juden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die Gebäude auf dem Jakobsplatz – um die Ecke liegt der Viktualienmarkt – sieht Charlotte Knobloch als ihr wichtigstes Lebenswerk an. Am 9. November 2006 wurde die Ohel-Jakob-Synagoge eingeweiht, das fand weltweit Beachtung. Zur gleichen Zeit entstand das Gemeindezentrum, daneben das Jüdische Museum, welches von der Stadt München betrieben wird. Heute wird das Ensemble, so schreibt der Münchner Journalist Michael Schleicher, auch „Charlottenburg“ genannt.

Charlotte Knobloch warnt vor aufkeimendem Antisemitismus

Im Gemeindezentrum sind verschiedene Veranstaltungssäle untergebracht und ein Restaurant. Es gibt einen Kindergarten und eine Ganztags-Grundschule für jüdische und nicht jüdische Kinder. Ein jüdisches Gymnasium und jüdischer Religionsunterricht an verschiedenen Schulen werden von hier aus organisiert, ebenso ein jüdisches Altenheim. Ein Haus voller Leben, so hatte es sich Charlotte Knobloch gewünscht.

Doch die Gebäude auf dem Jakobsplatz müssen bewacht und beschützt werden. Antisemitische Attentate sind immer möglich, das zeigte zuletzt der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 mit zwei Morden in der Folge. Panzerglas ist eingebaut in München, an Ein- und Ausgang befinden sich Sicherheitsschleusen. Beschäftigte sagen: „Wir sind das nicht anders gewohnt, und die Kindergarten- und Schulkinder auch nicht.“ Mahnen, erinnern, vor dem in vielen Facetten immer wieder neu aufflammenden Antisemitismus warnen – das ist die Mission von Charlotte Knobloch. Einer ihrer Vorgänger als Zentralratsvorsitzender war Ignatz Bubis, ein außergewöhnlich einnehmender, intelligenter und fröhlicher Mensch. Ausgerechnet er sagte 1999 kurz vor seinem Tod aufgrund eines Krebsleidens voller Verbitterung, dass er letztlich fast nichts gegen den Antisemitismus habe ausrichten können. „Da habe ich ihn sofort angerufen“, erzählt Charlotte Knobloch, „und ihm gesagt: Das stimmt nicht, du hast sehr viel erreicht.“

Im Juli fuhr sie ans Grab ihrer Retterin

Am 27. Januar 2021 spricht Charlotte Knobloch im Bundestag, es ist der Gedenktag an die Opfer des Holocausts, an jenem Tag wurde 1945 das KZ Auschwitz befreit. In Richtung der „ganz rechten Seite des Plenums“, der AfD, sagt sie, vielleicht sei der eine oder andere noch „bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft wird“. Und: „Wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen.“ Im Gespräch meint sie: „Diese Partei will die Demokratie zerstören, sie betreibt Hass gegen Juden.“ Wie aber kann man den Antisemitismus vertreiben? „Das kann ich, das können wir Juden nicht alleine. Wir brauchen die große Unterstützung der Politik dafür, die sich geeint zeigt und sich klar und öffentlich gegen diese Haltung stellt.“

Charlotte Knobloch ist ein Familienmensch, doch ihr Mann verstarb 1990. Ihre drei Kinder, die Enkel und Urenkel leben im Ausland. Sie hält regelmäßig Kontakt zu ihnen, besucht sie. Zum Geburtstag reisen sie an. Knobloch meint: „Ich lebe alleine hier und habe deshalb mehr Zeit. Ich freue mich immer, wenn ich etwas tun kann.“ Und wenn sie mal Freizeit hat, schaut sie gern Fußball. Knobloch verblüfft mit Faktenwissen und ist ein eingefleischter Fan des FC Bayern München.

Erst im Juli dieses Jahres ist sie nach Arberg gefahren ans Grab von Zenzi Hummel, ihrer Retterin. Sie starb 2002 im Alter von 95 Jahren. Im Ort steht nun eine Bronzeskulptur, die Hummel und das Mädchen Charlotte Neuland zeigt. 2017 wurde Hummel posthum von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Diese Auszeichnung erhalten Nichtjuden, die Juden vor der Ermordung gerettet haben.

Heute sind ihre Koffer ausgepackt

Vor allem das Jüdische Zentrum ist ihr zur Heimat geworden. Genau dort, sagt sie, müsse jüdisches Leben gelebt werden, mitten in der Stadt. Nach der Eröffnung habe sie gesehen, „dass das von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen wird“. Erst da, 2006, habe sie beschlossen: „Meine Koffer sind ausgepackt, ich bin da. Das hat mein Leben leichter gemacht.“

An diesem Abend ist noch eine Veranstaltung im Prinzregententheater, das Jewish Chamber Orchestra Munich spielt sein Neujahrskonzert, das neue Jahr begann im Judentum am 25. September. Doch bis zum Konzert bleibt etwas Zeit, Charlotte Knobloch will in ihrem Büro noch etwas erledigen. Sie nimmt die Treppe, nicht den Aufzug.