Cem Özdemir fragt sich derzeit, ob er künftig am Kabinettstisch Platz nehmen wird. Foto: imago images/IPON/Stefan Boness

Die Ökopartei kann erst nach langen internen Auseinandersetzungen eine Namensliste für das Bundeskabinett präsentieren. Der Stuttgarter Abgeordnete Cem Özdemir wird Landwirtschaftsminister, Fraktionschef Anton Hofreiter geht deshalb leer aus.

Berlin - Manchmal liegen zwischen Aufbruch und Vollbremsung nur wenige Stunden. Im einen Augenblick setzt man sich gut gelaunt in Bewegung, um kurze Zeit später plötzlich festzustecken. Bis es dann wieder weitergeht, kann einige Zeit vergehen.

Man konnte das in den vergangenen zwei Tagen gut bei den Grünen beobachten: Am Mittwoch noch standen die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck erschöpft, aber zufrieden in einer Berliner Eventhalle neben den Führungskräften der neuen Ampelpartner von SPD und FDP. Der Koalitionsvertrag ist fertig. Er verspricht einen neuen Aufbruch – inmitten der bisher schlimmsten Coronawelle. Ab der übernächsten Woche soll regiert werden.

Neu sind vier Personalien

Am Donnerstag startete die Ökopartei dann mit einem „Bund-Länder-Forum“ den Prozess der Urabstimmung, in der die 125 000 Parteimitglieder in den kommenden zehn Tagen digital oder per Brief über den Koalitionsvertrag befinden sollen. Angekündigt war, dass die Parteispitze bei dieser Gelegenheit auch bekannt gibt, wer neben Baerbock und Habeck für die Grünen künftig am Kabinettstisch Platz nehmen wird.

Doch daraus wurde zunächst nichts: „Ein bisschen müsst ihr noch warten“, sagte Habeck am Nachmittag entschuldigend. Die Beratungen in den Gremien dauerten an, das Minister-Tableau könne erst am Freitag veröffentlicht werden. Am Donnerstagabend dann steigt doch weißer Rauch auf. Nun ist klar, wen die Partei in die Regierung entsenden will.

Özdemir ist der erste Bundesminister mit türkischen Wurzeln

Bekannt war, dass Habeck Vizekanzler sowie Superminister für Wirtschaft und Klimaschutz werden und Baerbock das Auswärtige Amt übernehmen soll. Neu sind vier weitere Personalien: Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete und langjährige Grünen-Chef Cem Özdemir wird Minister für Ernährung und Landwirtschaft. Das ist ein Arbeitsfeld, das für die Grünen ausgesprochen wichtig ist, in dem Özdemir bislang aber noch nicht als Fachmann in Erscheinung trat.

Das Signal ist gleichwohl wichtig: Özdemir, der bei der Bundestagswahl Ende September seinen Wahlkreis mit sensationellen 40 Prozent der Stimmen gewann, repräsentiert den starken Landesverband Baden-Württemberg. Er ist ein Vertrauter von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Und: Er ist der erste Politiker mit türkischen Wurzeln, der Mitglied einer Bundesregierung wird. Das Bundesumweltministerium wiederum soll bald die ehemalige Parteimanagerin Steffi Lemke leiten. Sie ist von Hause aus Umweltpolitikerin, fachlich also bestens vorbereitet. Außerdem stammt sie aus Sachsen-Anhalt, was wichtig für den West-Ost-Proporz ist.

Personal aus den Ländern für Familienministerium

Für das Familienministerium ziehen die Grünen Personal aus den Ländern ab: Anne Spiegel, bisher Umweltministerin und zuvor Familienministerin in Rheinland-Pfalz, wechselt nach Berlin. Und die ehemalige Parteichefin und derzeitige Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth wird Kultur-Staatsministerin im Kanzleramt. Damit ist sie zwar kein Mitglied der Regierung, aber eine Staatssekretärin in herausgehobener Position. Den Personalbeschlüssen des Bundesvorstands war eine heftige Auseinandersetzung zwischen der Parteilinken und dem Realo-Flügel vorausgegangen. Den ganzen Tag über ging es am Donnerstag hin und her.

Die Entscheidung des Abends bedeutet nämlich auch, dass zwei prominente Grüne nicht ins Kabinett einziehen werden – und zwar die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt. Hofreiter, eine Führungsfigur des linken Flügels, galt intern eigentlich als gesetzt für einen Ministerposten. Der promovierte Biologe ist Verkehrsfachmann. Da dieses Ressort aber an die FDP fiel, wären für Hofreiter noch das Umwelt- oder Agrarressort infrage gekommen. Er musste aber dem Realo Özdemir weichen. Hofreiter wird jetzt womöglich Fraktionschef bleiben. Seine Co-Vorsitzende Göring-Eckardt, eine Reala, könnte Roths Posten im Bundestagspräsidium übernehmen. Den hatte sie in der Vergangenheit schon einmal inne.

Es kracht immer noch ordentlich

Drei von fünf künftigen grünen Ministern gehören dem Realo-Flügel an, neben Özdemir sind das die beiden Parteichefs Habeck und Baerbock. Lemke und Spiegel zählen zur Parteilinken. Drei Frauen stehen zwei Männern gegenüber. Das entspricht dem Selbstverständnis der Grünen als feministische Partei. Wichtig ist diese Aufteilung auch, weil das gesamte Kabinett gleichermaßen aus Männern und Frauen bestehen soll. Wären Özdemir und Hofreiter Minister geworden, hätten die Männer die grüne Riege dominiert.

Der Umstand, dass die Grünen am Donnerstag zunächst kein Personaltableau liefern konnten und hinter den Kulissen ein offener Machtkampf tobte, war der Parteiführung sichtlich peinlich. Der Start der digitalen Urabstimmung über den Koalitionsvertrag musste um einen Tag auf Freitag verschoben werden. Dabei schien die Zeit der Flügel-Konflikte eigentlich vorbei zu sein. Habeck und Baerbock, die die Grünen seit 2018 führen, hielten sich stets zugute, den einst chronisch streitlustigen Laden beruhigt und auf Regierungskurs gebracht zu haben. Nun hat sich herausgestellt, dass es immer noch ordentlich krachen kann in der Ökopartei. Die künftigen Koalitionspartner SPD und FDP werden es mit großem Interesse zur Kenntnis genommen haben.