Sie wollen vielen, aber bestimmt nicht allen gefallen: Maneskin, die ESC-Gewinnerband aus Italien. Foto: dpa/Soeren Stache

Der 65. Eurovision Song Contest in Rotterdam hat gezeigt: Originalität und Qualität sind wichtiger als Kostüme und Halligalli. Wird die ARD draus lernen? Tops und Flops in Rotterdam – unsere ESC-Bilanz.

Rotterdam - Rock, Pop, Heavy Metal, Chanson, Comedy, Politsong – am Samstag war im Wettbewerb des Eurovision Song Contest (ESC) in Rotterdam wirklich alles dabei. Und vor allem saßen in aller Welt nicht nur mehr als 200 Millionen TV-Zuschauer vor den Geräten, sondern auch 3500 Fans live in der Ahoy-Arena, um nach dem Corona-Ausfall im vergangenen Jahr endlich wieder eine große bunte ESC-Party zu feiern. Hier die wichtigsten Lehren aus der vierstündigen Eurovision-Nacht.

Tätowierte Sieger: Gibt es wirklich immer noch Leute, die den ESC für einen Schlagerwettbewerb halten? Spätestens beim Auftritt der italienischen Rockband Maneskin werden ihnen zur Strafe die Ohren abgefallen sein. „Zitti e buoni“ ist alles andere als „ruhig und lieb“, wie der Titel auf Deutsch lautet; es ist ein wüster Protestsong gegen Anpassung und Gleichförmigkeit. Musikalisch ist das gar nicht so sonderlich facettenreich, aber die Performance insbesondere vom reich tätowierten Sänger Damiano David absolut professionell und mitreißend.

Übrigens belegen die italienischen ESC-Beiträge seit 2011 fast durchweg Top-Ten-Plätze – es lohnt sich, dass die RAI konsequent den Sieger des alljährlichen nationalen Sanremo-Festivals nominiert. Hier versammelt sich alles, was im Italo-Pop Rang und Namen hat; hier gewinnt nur, wer die aktuellen Trends beim Geschmack des Publikums kennt. Gut gemacht, Italien!

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Ewige Vorletzte: Womit wir auch schon beim deutschen Beitrag wären: Jendrik aus Hamburg belegte den 25. Platz unter 26 Finalteilnehmern – um Italien zu überrunden, hätte er sage und schreibe 522 Punkte mehr haben müssen. Nicht, dass der federführende NDR kein großes Casting veranstaltet hätte; gleich zwei Jurys haben sich darin klar für Jendrik und seinen Feelgood-Song „I don’t feel Hate“ ausgesprochen. Aber dieser liegt offenbar meilenweit von dem entfernt, was internationale Fachjurys und vor allem ein internationales Publikum interessant finden. Um den äußerst sympathischen 26-jährigen Pop-Newcomer tut es einem im Nachhinein leid – aber irgendwie muss die ARD in ihrer Auswahl künftig weniger Spontanität und mehr musikalische Substanz fordern. Sonst hat Deutschland bald endgültig das ESC-Looser-Image fest.

Emotionaler Höhepunkt: Wohin das führen kann, zeigt das Schicksal des Briten James Newman, der am Ende der Punktvergabe mit doppelt zero da stand – null Punkte von den Jurys, null Punkte vom Publikum. Schlimmer geht’s nimmer. Obwohl: So unglaublich schlecht war Newmans Song „Embers“ nun auch wieder nicht. Aber die ESC-Fans trauen den Kandidaten der BBC einfach grundsätzlich nichts mehr zu; egal, was auf der Bühne passiert.

Immerhin sorgte die Watsche für den emotionalsten Augenblick des langen ESC-Abends: Als die Moderatoren den unwiderruflich letzten Platz für James Newman verkündeten, gab es für ihn demonstrativ starken und langen Beifall von den Künstlerkollegen und Jubel von den Rängen. So viel Respekt muss immer sein.

Zwei Überraschungen: Die ESC-Zweite Barbara Pravi aus Frankreich galt schon vorab als Favoritin, doch den ESC-Dritten Gjon’s Tears aus der Schweiz hatten vor dem Finale nur wenige Auguren auf ihrem Zettel. Was beide verband: zwei anspruchsvolle Beiträge in französischer Sprache, zwei Chansons, zwei sparsam inszenierte, ganz auf den Künstler konzentrierte Beiträge. Gjon’s Tears wurde mit 267 Punkten sogar zum Sieger der Fachjurys. Songs wie diese sind die Perlen in den ESC-Wundertüten – und man freut sich, dass sie am Ende tatsächlich in der Tabelle fast ganz oben stehen.

Der Rest vom Schützenfest: Serbien, Griechenland, Zypern, Malta, Moldau – die Versuchung ist immer groß, mit dem, was vielleicht vor sieben Jahren beim ESC Erfolg hatte, einfach noch mal in den Ring zu steigen. Doch der Wettbewerb wird moderner, aktueller und diverser in jederlei Beziehung. Diese Popnacht einmal im Jahr ist Solitär wie Unikum zugleich. Auf nächstes Jahr im Mai in bella Italia!