Die Bait-Ur-Rouf-Moschee in der Hauptstadt Dhaka, die im Inneren Gläubige mit einer interessanten Lichtchoreografie empfängt. Foto: Courtesy MTA/Sandro di Carlo Darsa

Die Architektin Marina Tabassum baut Häuser in ihrer Heimat Bangladesch. Wie gut Architektur unter klimatischen Extrembedingungen funktionieren und aussehen kann, wird in einer Ausstellung im Architekturmuseum der TU München erzählt.

In den Architekturdebatten der jüngsten Zeit werden immer öfter Ethik und Ästhetik gegeneinander ausgespielt. Spätestens mit den um die Jahrtausendwende aufkommenden Diskussionen um das Anthropozän wurden beispielsweise stilistische Fragen von der Klima- und Ressourcenkrise überlagert. Es scheint, als wäre der sogenannte Stararchitekt endgültig und womöglich zurecht auf dem Wert- und Wortstoffhof der Geschichte entsorgt worden.

In den spektakulären Signature-Bauten eines Frank O. Gehry, Rem Koolhaas oder Daniel Libeskind durfte sich eine Gesellschaft wiedererkennen, die das Individuelle zum Fetisch erhob. Heute erkundigt man sich nicht mehr zuerst nach dem Namen des mindestens verhaltensauffälligen, wenn nicht egozentrischen Baumeisters, sondern nach der Klimabilanz des Gebäudes und dem Flächenverbrauch pro Bewohner. Die Architektur ist nicht mehr zum Staunen da, sie soll idealerweise die Menschen vor ihrem selbst verschuldeten Untergang bewahren.

Lehm und Ziegel

Und doch staunt man Bauklötze, wenn man in der Pinakothek der Moderne dem Schaffen der Architektin Marina Tabassum begegnet. Gleich im ersten Raum stößt der Besucher der Ausstellung im Architekturmuseum der TU München auf das Material Lehm, der in Form von Ziegeln als traditioneller Baustoff in Bangladesch gilt, der Heimat der 55-Jährigen. Der simple, kniehohe karminrote Schornstein wirkt hier in den hohen grauen Hallen des Museums wie ein karges Kunstwerk, ein Objet trouvé eines Arte-Povera-Kollektivs.

Tatsächlich feiert die von Vera Simone Bader vortrefflich kuratierte Schau durch geschickte Beleuchtung und Platzierung die tradierten Baustoffe Holz und Lehm. Marina Tabassums Architektursprache ist modern, zitiert jedoch stets die lokale Bautradition, wofür sie bereits in der Entwurfsphase mit Studierenden und ansässigen Bewohnern engstens zusammenarbeitet.

Steigende Wasserpegel

Die Frage, warum ausgerechnet die Arbeit dieser ausschließlich in Bangladesch tätigen Architektin eine Inspirationsquelle für unser Verständnis von fortschrittlichem Bauen und Wohnen haben könnte, mutet angesichts des Klimawandels geradezu naiv an. Bangladesch zählt nicht nur zu jenen Staaten der Erde, die am dichtesten besiedelt sind. Das südasiatische Land ist auch größtenteils sehr flach, weshalb der prognostizierte Anstieg des Meeresspiegels mit hoher Wahrscheinlichkeit katastrophale Folgen haben wird. Und was am Golf von Bengalen, im nördlichen Teil des Indischen Ozeans, gerade projektiert wird, welche Lösungen man dort für das Bauen in Zeiten von Klima- und Flüchtlingskrisen und den daraus erwachsenden sozialen Konflikten findet, kann deshalb mit Einschränkungen als Blaupause für europäische Planungsbüros und Politik fungieren.

Marina Tabassum führte von 1995 bis 2005 gemeinsam mit Kashef Chowdhury das Büro Urbana und baute bisher, wie schon erwähnt, auch mit den 2005 gegründeten Marina Tabassum Architects (MTA) ausschließlich in Bangladesch. Solch eine räumliche Fokussierung fördert normalerweise nicht gerade die Popularität. Doch als Tabassum 2016 für die Bait-Ur-Rouf-Moschee in ihrer Geburtsstadt Dhaka den 2016 den renommierten Aga-Khan-Preis erhielt änderte sich einiges.

Konzentration aufs Wesentliche

Marina Tabassums Arbeiten sind allesamt vom Suffizienzgedanken durchdrungen, sie konzentriert sich aufs Wesentliche und ignoriert dabei dennoch nicht das Vorhandene, die Natur, das Wetter, die Klima. Der Wind, die Hitze, das Licht sind Themen und Herausforderungen, die auch auf andere Gegenden übertragbar sind. Wie kann man Wohnungen in Ballungsräumen ohne Klimaanlagen kühlen? Durch den Einsatz von Lamellenlüftungen, Wasserbassins und geschickten Ausrichtungen der Wandöffnungen.

Wie aber soll man bauen und wohnen, wenn die Gefahr der Überflutung ständig vorhanden ist? In der Pinakothek gibt es eine einfache Antwort: Gebäude auf Stelzen, simpel, schnell und günstig zu errichten. Illustriert werden Entwürfe des MTA von Häusern für das Überschwemmungsgebiet des Ganges-Deltas, von denen jedes weniger als 1000 Euro kostet.

Minimalismus aus Not

Das Schöne an dieser Ausstellung ist allerdings, dass hier nicht wie üblich bei Architekturschauen nur Skizzen, Modelle und Fotografien präsentiert werden. Nein, in München sind sogar Nachbauten in Originalgrößen zu bewundern – von außen und innen! So können die Besucherinnen und Besucher ein nachgebautes Apartment in einem „Khudi Bari“ betreten, in einem Tiny House also.

Man spürt förmlich den begrenzten Raum und die Materialität der Baustoffe. Nur dass im Ganges-Delta keine minimalistisch lebenden Hipster-Paare in diesen Miniaturhäusern logieren, sondern ganze Familien darin wohnen, die meist mit der Landwirtschaft ihre karge Existenz finanzieren. Das muss man sich dann schon dazudenken.

Trotzdem – und das ist das herausragende Verdienst von Marina Tabassum – hat man bei dieser feinen Werkschau zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, es handle sich um Armutsarchitektur, im Gegenteil. Marina Tabassums sozial-ökologischer Ansatz besteht vor allem in der Kunst, auch bedürftigen Menschen ein würdiges, sicheres Leben in äußerlich ansprechenden Neubauten zu ermöglichen. Mehr noch: Das eine bedingt das andere. Oder anders ausgedrückt: Keine Ethik ohne Ästhetik.

Info

Ausstellung
Bis 11. Juni 2023 zeigt das Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne Marina Tabassums Arbeiten, Di.-So. 10-18, Do. bis 20 Uhr.