Anne Will wollte wissen: funktioniert die Bundes-Notbremse? Foto: ARD/ARD

Anne Will hat in ihrer Talkrunde in der ARD die Grüne Annalena Baerbock schon fast als Kanzlerin behandelt. Aber die stärkste Stimme des Abends war die Liberale Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Stuttgart - Überall wo Annalena Baerbock jetzt auftritt ist die grüne Kanzlerkandidatin der Stargast. Natürlich auch bei Anne Will am Sonntagabend in der ARD und die erste Viertelstunde war für sie reserviert. Wobei es allerdings schon auffällig war, wie die Moderatorin die 40-jährige Baerbock schon als ausgemachte Kanzlerin hofierte – mindestens zweimal. So fragte Anne Will nach dem soviel gepriesenen gemeinsamen Führungsstil der Grünen und ob der sich denn durchhalten lasse im Kanzleramt, „denn da müssen Sie alleine entscheiden“, woraufhin Baerbock cool bemerkte, bei den „ganz großen Krisen“ da müsse sie allein entscheiden, schon wegen der Richtlinienkompetenz als Bundeskanzlerin. Aber natürlich werde man diese „große Herausforderung“ der Regierungsverantwortung nur mit vielen grünen Persönlichkeiten schaffen, und der Robert Habeck werde die Koalitionsverhandlungen vorbereiten und man regiere im übrigen in elf Bundesländern mit und stelle einen grünen Ministerpräsidenten. Die Botschaft war, ich höre auf andere Grüne.

Baerbock mokiert sich über Namibia

Und ein zweites Mal skizzierte Anne Will die Grüne später als ausgemachte Kanzlerin. Da war in der Studiorunde handwerkliche Kritik am neuen Bundesinfektionsschutzgesetz laut geworden und Anne Will wollte von Annalena Baerbock dann tatsächlich schon ein Statement als Kanzlerin in spe einholen: „Frau Baerbock, Sie sind ja nun schon fast auf dem Sprung ins Kanzleramt, wie kann es denn sein, dass das Kanzleramt so schlecht arbeitet?“ Nun ja, die Vorlagen seien ja aus dem Arbeitsministerium und dem Finanzministerium gekommen, antwortete Baerbock, nie um eine Antwort verlegen. Ziemlich überzeugend erklärte die Grüne dann im Übrigen, warum sich die Grünen enthalten hätten bei der Abstimmung über die Bundesnotbremse – „lange von den Grünen gefordert, aber zu spät, klammert die Arbeitswelt aus“ – und ziemlich interessant waren ihre Ausführungen zum klimaneutralen Industriestaat Deutschland. Das müsse ein weltweiter Vorreiter werden, denn – „soll das vielleicht Nambia machen?“.

Anne Will nennt Söder den „Grünen-Flüsterer“

Und auch die Frage zur politischen Konkurrenz enthüllte ziemlich viel vom Selbstbewusstsein von Baerbock. Gefragt von Anne Will, ob sie sich jetzt eigentlich mehr mit dem CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet oder mit dem „Grünen-Flüsterer“ Markus Söder bessere Chancen ausrechne, sagte Baerbock, dass es eigentlich gut wäre, dass diese „Hängepartie“ bei der größten Regierungspartei jetzt beendet sei. Im Übrigen orientierten sich die Grünen nicht an den anderen, sondern an ihren eigenen Stärken und ihren Inhalten.

So könne man mit Geimpften nicht umgehen, sagt die Liberale

Die spannenden Beiträge zum eigentlichen Thema des Abends – „Bundesnotbremse: Durchbruch oder Tiefpunkt in der Pandemiebekämpfung?“ – aber lieferten die Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sowie ein Demokratieforscher und eine Physikerin, die sich gegenseitig Rätsel stellten. Leutheusser-Schnarrenberger plädierte dafür, dass es ein „großes, umfassendes und leicht zugängliches Testangebot“ gebe, damit Freiheitsrechte rasch zurückgegeben werden können. Wichtiger noch aber sei das Impfen, und da sei es „komplett falsch“, dass es laut neuem Bundesinfektionsschutzgesetz in das „Ermessen der Regierung“ gestellt werden solle, ob sie im Wege einer Rechtsverordnung bei Geimpften 15 Tage nach der Zweitimpfung den Geimpften wieder Freiheitsrechte gewähre. Sie wende den Begriff „verfassungswidrig“ sehr strikt an, so Leutheusser-Schnarrenberger, aber in diesem Falle treffe er garantiert zu: „So kann man mit Geimpften nicht umgehen. Wenn ich kein Infektionsrisiko mehr darstelle, dann kann man mir meine Rechte nicht mehr nehmen.“ Sie müssten sofort gewährt werden.

Täglich 40 Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe

Skeptisch ist Leutheusser-Schnarrenberger auch wegen der Ausgangssperren, täglich 40 Verfassungsbeschwerden gingen in Karlsruhe ein, und es sei fraglich, ein Gesetz zu machen, dass in Teilen dann wieder vom Verfassungsgericht gekippt werde. Wie die Wirkung der Ausgangssperren jetzt auch sei, sie seien offenbar moderat, sie gingen aber einher mit „massiven Freiheitsbeschränkungen“ und das nun schon seit mehr als einem Jahr. Auch handwerklich, so Leutheusser-Schnarrenberger, sei das neue Gesetz „ganz schlecht“, und sie frage sich, wo eigentlich die zunächst klar positionierte Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) bei den Beratungen im Kabinett gewesen sei. Die Einbeziehung von früher gültigen anderen Faktoren – etwa die Belastung des Gesundheitssystems – sei im neuen Recht „einfach weggelassen“ worden, dabei seien diese anderen Faktoren – etwa die Zahl der Geimpften – doch wichtig.

Demokratie ist keine Ein-Punkte-Veranstaltung

Exemplarisch für das Pro und Contra von harten Maßnahmen waren dann der Disput zwischen dem Demokratieforscher Wolfgang Merkel und der Pandemieforscherin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut. Merkel verlangte eine klare Oppositionshaltung auch von den Grünen und ärgerte sich über den Satz von Robert Habeck, dass dies nicht die Stunde der Opposition sei, sondern die Stunde der „Verantwortung“. Natürlich müssten jetzt auch die Grünen die Regierung kontrollieren, so Merkel, und wenn sie es nicht täten, dann gebe sie der AfD „mehr Raum“ und die könne sich als Wächter der Demokratie aufspielen. Anders als die Virologie müsse die Politik mehrere Interessen verfolgen und die Corona-Maßnahmen in eine Balance zu den Freiheitsrechten bringen. Die repräsentative Demokratie sei keine Ein-Punkte-Demokratie, die nur das einzige Ziel der Infektionsbekämpfung verfolge, sie müsse viele Interessen berücksichtigen etwa auch wirtschaftliche Notwendigkeiten, die die es ermöglichten, den medizinischen Sektor am Laufen zu halten. „Wir wollen keinen wissenschaftlichen Philosophenkönig oder eine Philosophenkönigin haben, der mit seiner Weisheit und seiner Ethik die richtigen Entscheidungen trifft.“

Corona-Sterblichkeit bei 70-Jährigen: ein Prozent

Die Gegenrede kam von Viola Priesemann, die meinte, dass ein Einzelner sehr wohl das Recht zur Unvernunft habe – etwa ein Raucher zu sein, trotz aller wissenschaftlichen Ratschläge – nicht aber das Gemeinwesen. Priesemann bedauerte, dass wissenschaftliche Erkenntnisse genügend zur Verfügung stünden, aber manche Beiträge in den Feuilletons noch am Stand vom Frühjahr oder Sommer 2020 orientiert seien. Und dann stellte sie dem 69 Jahre alten Demokratieforscher Merkel drei Rätselfragen: Ob er wisse, wie denn in seinem Alter die Sterblichkeit nach einer Corona-Infektion sei (Antwort: ein Prozent). Und wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten in der Winterwelle gewesen sei (Antwort: Faktor zwei) und die Frage, wie tödlich die Infektionen jetzt in Indien seien (Antwort: blieb zeitbedingt aus). Jedenfalls hatte Merkel keine Lust, auf das „Examen“ einzugehen und konterte: „Sie haben mir keine Antwort gegeben auf meine These: Dass die Politik mehr als die Durchsetzung eines einzigen Zieles leisten muss.“